Visionen für Millionen

Millionen Visionen
Ideen zur Überwindung der spätkapitalistischen Sinnkrise 


Inhalt:
  • Intro | Neue Visionen für ein neues Zeitalter
  • Vision 1: Automonie - freie Energie, freier Wille und freie Patente
  • Vision 2 EU: Zukunft Afrika 
  • Vision 3: Zeit ist das neue Kapital
  • Vision 4: Das Internet als internationales Gewässer
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Lesedauer: ~60-80min

INTRO


Es ist eigentlich paradox: Wir befinden uns in einem langen Aufschwung. Der Staat nimmt viel Geld ein, die Arbeitslosigkeit ist auf einem Tiefstand, unsere Städte erleben einen Bauboom, wir haben seit über 75 Jahren Frieden. Und dennoch spüre ich eine wachsende Nachfrage nach alternativen Gesellschaftsmodellen. Das Vertrauen in die Unabhängigkeit und Gestaltungskraft unserer demokratischen Institution schwindet, gleichzeitig wird mit Unbehagen das Erstarken nationalistischer, protektionistischer Gruppen bedauert und überhaupt mit Sorge und Ohnmacht das Ausufern und -wuchern digitaler Großkonzerne kommentiert. Deshalb hört man allerorts: „Ein ‚Weiter so!’ kann es nicht geben“. Paradox, denn „Never change a running system“ wäre angesichts der Erfolgsgeschichte der letzten Dekade angebrachter. Abgesehen vom Klima...

Durch die gewaltigen Wählerwanderungen der letzten Jahre und die Unzufriedenheit mit unserer Politik scheint mir, dass die Menschen ihren Kompass verloren haben, der ihnen Orientierung in den Alltagsentscheidungen gibt, der identitätsstiftend und gleichermaßen sinnstiftend ist. Und es stimmt: Wo sind die großen Ideen, die Visionen, die uns leiten?







Wenn wir eines aus 14 Jahren CDU geführter Regierung gelernt haben, dann dass sie nie ein großes politisches Projekt hatte. Adenauer hatte die Westannäherung und den NATO Beitritt, Brandt die Aussöhnung, Kohl die Einheit und den EURO, Schröder die Sozial- und Energiereformen. Und was hatte Merkel? Jede Menge zu retten: Rettung der Banken, Rettung des Euros, Rettung von Flüchtlingen. Gewissermaßen eine Systemzustandsbeschreibung, in der reaktives Krisenmanagement mehr gefragt war, als gestalterisch tätig zu werden. 14 Jahre lang!
Wir leben in einer Zeit, in der die großen Ideologien ohnehin nicht mehr die Orientierung geben, die sie dereinst boten. Die ideologische Krise des Sozialismus seit den 1980ern hat bisher noch keine Leitlinie auf die internationalen Fragen des 21. Jahrhundert gefunden: Klimakrise, digitale Transformation, Globalisierung, die Zukunft der Arbeit. Die liberale Marktwirtschaft steckt seit der Finanzkrise in einer Sackgasse, produziert gewaltige Schuldenberge, führt zu irrwitzigen Vermögensanhäufungen einiger Weniger und wird gegenwärtig durch Notenbanken und fortschreitende Finanzialisierung am Leben gehalten. Ohnehin hat der Kapitalismus wenige Impulse für Visionen zu bieten. Wohin sollte er uns denn auch noch führen? Wir haben ihn bereits seit gut 300 Jahren. 
Und der Nationalismus liefert überhaupt keine Antworten auf die Fragen unserer Zeit, wenig verwunderlich stammt er doch aus dem präglobalisierten Präinternetzeitalter. Nicht zuletzt ist die gesellschaftliche, technologische und private Beschleunigung unser Generation, der „rasende Stillstand“ wie ihn Hartmut Rosa bezeichnet, mitverantwortlich, dass wir eine Müdigkeit gegenüber des ewigen Wachstums empfinden. Neben der Wachstumskritik empfinden immer mehr Menschen eine Entfremdung „im großen System“, sind auf einer Sinnsuche und zweifeln zunehmend am Wohlstandsverteilungskonzept. Daraus hervorgehen eine Orientierungslosigkeit und der Wunsch nach Veränderung − nur wohin soll es gehen?
Es verwundert deshalb wenig, dass Bewegungen wie Brexit, America First aber auch en Marche oder die Grünen schnell, sehr viel Zuspruch erhalten und innerhalb kürzester Zeit über tradierte Milieus, Ethnien und Klassen hinweg Wählerstimmen einsammeln. Es besteht in allen Gesellschaftsschichten das tiefe Bedürfnis nach einem Anker, einem Ziel, einer Vision, ja sogar nach Utopien, wie wir in Zukunft leben wollen. Wir brauchen eine moralische Legitimation für den aktuellen und anstehenden Verzicht, die täglich geleistete Mehrarbeit aber auch für den anstrengenden, demokratischen Willensbildungsprozess, damit wir sagen können: Ja, das bringt uns unserem Ziel ein Schritt näher, es zahlt auf unsere Vision ein. Denn eines ist klar: Wachstum, technischer Fortschritt und sozialer Aufstieg liefern uns nicht mehr uneingeschränkt diese Legitimation wie vielleicht noch in den 1990ern und den frühen 2000ern.. 
Nun, was kann so eine Vision sein? Wofür lohnt es sich, „durch dick und dünn“ zu gehen? Oder um es in der Silicon Valley Sprache zu sagen: What’s our BHAG? Our Big Hairy Audacious Goal? 
Das BHAG, oder die Vision muss groß sein. Sie muss utopisch sein. Denken wir an die genialste Utopie aller Zeiten: Das Paradies im Jenseits. Es gibt keinen naturwissenschaftlichen oder historischen Beweis für die Existenz des Paradieses im Jenseits. Und doch folgen ihr Milliarden Menschen auf dieser Erde, seit Jahrhunderten. Nun, eine Vision für Deutschland oder Europa muss nicht das Heilsversprechen sein, aber zumindest groß gedacht, denn:

"People tend to overestimate what can be done in one year and to underestimate what can be done in five or ten years."  -  J. C. R. Licklider in „Libraries of the Future” 1966

In den nun folgenden Abschnitten versuche ich, eine Leitlinie zu entwerfen, die – aus meiner Sicht – in eine neue Gesellschaft des 21. Jahrhunderts führen kann. Es geht um existenzielle Fragen, aber auch um unsere Demokratie sowie die Logik, wie wir Entscheidungen treffen. Ich freue mich auf konstruktive Kritik!







VISION 1: AUTONOMIE



1.1 Freie Energie für alle 



Autonomie ist die Basis, frei von anderen Einflüssen und Abhängigkeiten Entscheidungen treffen zu können. Wenn wir, und damit meine ich die Europäische Union als Ganzes, unsere Zukunft nach unseren Vorstellungen gestalten wollen, müssen wir zuallererst existenzielle Abhängigkeiten gegenüber Drittstaaten verringern. Da Europa ausreichend Wasser, Luft und Land zur Verfügung steht, um die Bevölkerung zu ernähren, ist die einzige existenzielle Abhängigkeit derzeit von Rohstoffen gegeben, die wir nicht in natürlicher Form und ausreichender Menge auffinden: Öl und Gas. Können wir unseren eigenen Verbrauch für das Heizen unserer Wohnungen und das Betanken unserer Autos soweit reduzieren, dass er nicht weiter von Gas und Öl (und deren Derivaten) abhängt, sind wir nicht weiter gezwungen, in einer Abhängigkeit von Staaten zu stehen, die nicht oder nur bedingt unsere europäischen Werte und Vorstellungen teilen. Russland (als Gasexporteur #1), arabische Öl-Staaten in Nahost und in Teilen auch die USA sind Partner, die unseren Ressourcenbedarf decken, allerdings zu hohen moralischen Kosten: Erdöl gegen Panzer (Saudi-Arabien), Nordstream 2 gegen Sanktionsreduzierung (Russland), Frackinggas und militärische Sicherheit gegen politische und kriegerische Unterstützung (USA). Würden die Europäische Union und Deutschland im Besonderen vehement für ihre freiheitlichen Werte einstehen, dürften wir diese Geschäfte nicht länger eingehen. Allerdings möchte niemand im Winter frieren, und das ist das Dilemma.


Ein Weg in eine Autonomie kann eine konsequente Verstromung aller unserer Energieverbraucher sein, ob für den Verkehr (Elektromobilität oder durch Elektrolyse erzeugter Wasserstoff), für das Heizen (Nachtspeicheröfen, Thermosolar) oder für die energieintensive Industrie (Stahl, Aluminium, Chemie etc.) Ob die erforderliche Wärme zur Stahlerzeugung in einem durch Kohle angeheizten Hochofen oder durch elektrische Spulen erzeugt wird, ist aus produktionstechnischer Sicht egal. Wichtig ist jedoch, dass der nötige Strom in Europa erzeugt wird, aus regenerativen Quellen stammt und CO2-neutral ist. Nur so können wir zwei wichtige Ziele erlangen:

  1. Eine Konzentration unserer Bemühungen zur klimaneutralen Energieerzeugung erreichen (durch höhere Nutzung von Elektrizität in Verkehr, Wärmeerzeugung und Produktion) und damit eine massive Reduktion der Komplexität unserer Energiewende. Wenn jede Gas- und Ölheizung durch Nachtspeicheröfen ersetzt werden würde, könnten wir auf Gaslieferungen aus dem Ausland verzichten. Wir könnten Nachtspeicheröfen auch als Energiespeicher nutzen um eine bessere Grundlast im Stromnetz zu gewährleisten. Dafür benötigen wir einen guten einhundertprozentigen Ökostrommix (Wind, Sonne, Wasser), intelligente Heizgeräte und sehr viele neue Stromtrassen − also alles Dinge, die im Rahmen der Energiewende ohnehin angegangen werden müssen.
  2. Wir könnten eine stark sinkende Abhängigkeit vom Öl- und Gaspreis erlangen, der maßgeblich die Wirtschaftlichkeit und damit die privaten Investitionstätigkeiten in die regenerative Energieerzeugung beeinflusst. Ohnehin stellt sich die Frage, warum regenerative Energiequellen im Wettbewerb zu fossilen Energieträgern stehen? Wir wenden Energie auf, um fossile Energie zu schöpfen (siehe Abbildung). Bei endlichen fossilen Energieträgern muss daher der Energienettoertrag langfristig sinken, und das tut er auch! Bei neuen tieferliegenden Ölfeldern, Ölsanden und Fracking ist der Energiebedarf gewaltig, um überhaupt diese Brennstoffe nutzbar zu machen. Dieses Prinzip ist bei regenerativen Energien anders. Windräder und Photovoltaikanlagen müssen zwar energieintensiv erzeugt werden, benötigen aber im Betrieb keine zusätzliche externe Energie. Einmal installiert, sorgen Windräder für eine kalkulierbare, immer gleiche Wirtschaftlichkeit. Die Kosten der Erzeugung sind konstant und stabil und unterliegen nicht wie bei fossilen Energieträgern einem Angebot-Nachfrage-Prinzip.
Aus: https://pyrolysium.org/eroei/eroei/
Wie könnte das erreicht werden?
Stellen wir uns vor, wir hätten einen Park von 100 Windrädern, einen Schrottplatz, eine Stahlhütte und alle notwendigen Gewerke und Produktionsanlagen zum Bau weiterer Windräder. Der Strom, der durch den Windpark erzeugt wird, wird ausschließlich dafür genutzt, neue Windräder zu bauen. Jedes einzelne Windrad aus diesem Produktionscluster entstünde klimaneutral und wäre in der Gesamtenergiebilanz vom ersten Moment an positiv. Mit jedem weiteren Windrad, das aus diesem Cluster entstünde, würde sich der klimaneutrale Energieoutput vergrößern: das Ergebnis wäre eine Kreislaufwirtschaft, die in sich geschlossen, autark und klimaneutral immer mehr Energie erzeugen würde. Nach 10 Jahren hätte man ausreichend Windräder gebaut und installiert, sodass der Nettoenergieüberschuss ausreichte, um Millionen von Haushalten und Produktionsstätten mit Energie zu versorgen, und das ohne weitere fossilen Ressourcen dafür zu benötigen oder in wirtschaftlicher Konkurrenz zu fossilen Brennstoffen zu stehen.
Mit einer autarken, klimaneutralen und kreislaufwirtschlichen Energieerzeugung würde der Strompreis auf Grenzkosten sinken und zu einem enormen Wettbewerbsvorteil gegenüber allen anderen Systemen der Produktion und Energiegewinnung werden: ohne Endlagerungsproblematik, ohne die energieintensive Industrie zu benachteiligen (Stichwort Industriestandort Deutschland), und ohne politische Abhängigkeiten gegenüber Drittstaaten. Ein Energieschlaraffenland!
Energie könnte langfristig sogar kostenfrei sein, wenn die Produktionscluster im Besitz der Gesellschaft wären. Unsere nachfolgenden Generationen würden gewaltige Rendite erwirtschaften können, wenn Wertschöpfung nur noch von Arbeit und Kapital, nicht mehr von Energie abhinge, im Übrigen auch ein Standortvorteil für Künstliche Intelligenz. Denn was vielen nicht bewusst ist: Das Antrainieren von Algorithmen braucht sehr, sehr viel Energie und erzeugt Unmengen von CO2. Im postindustriellen Zeitalter könnten Energiesicherheit und Energiekosten sogar noch wichtiger werden, als es noch im industriellen Zeitalter der Fall war. 


Die Autonomie und Autarkie der Energiefrage ist meiner Ansicht nach das strategische Projekt zur Sicherung unseres Wohlstandes im Einklang mit Natur und sozialer Marktwirtschaft. Es braucht lediglich einen Anfang und einen klaren Kurs, jeden Heiz- und Produktionsprozess von fossilen Brennstoffen auf Strom oder Wasserstoff umzustellen. Mit der Energiewende wäre prinzipiell auch eine Energiedividende möglich, die zukünftigen Generationen bei der Finanzierung der Gesellschaft hilft, ähnlich dem Norwegischen Staatsfond, der die (endlichen) Öleinnahmen von heute für zukünftige Generationen anlegt.


1.2 Freier Wille: Ein Update der Demokratie gegen Agendasetting, Framing und Lobbyismus

In der öffentlichen Debatte werden stets Maßnahmen und Ziele verwechselt. So wird gestritten darüber, ob Maßnahme A oder Gesetz B die sinnvollere Lösung eines Problems ist; es wird aber nie über die Prioritäten unserer Probleme debattiert. Sachgrundlose Befristung, Kohleausstieg, Gute-Kita-Gesetz sind Maßnahmen zur Lösung eines Problems, aber sie sagen wenig über das Ziel, unsere Strategie selbst und noch viel weniger über die Prioritäten unserer Probleme aus. Woran wurde beispielsweise während der Koalitionsverhandlungen festgemacht, dass die PKW-Maut ein dringendes und wichtiges Anliegen der Deutschen ist? Die PKW-Maut stellt lediglich eine Maßnahme zur besseren Finanzierung der Infrastruktur dar, aber ist die Finanzierung der Infrastruktur unser höchstpriorisiertes Anliegen? In Zeiten niedriger Zinsen und hoher Steuereinnahmen?  Oder:
Wie konnte Merkel-Kabinett 1 eine Mehrwertsteuererhöhung von 3 % umsetzen, wobei beide Koalitionspartner im Wahlkampf max. 2 % forderten? Warum beschäftigte sich das Merkel-Kabinett 2 mit der Mehrwertsteuersenkung für die Hotellerie? War das zu dem Zeitpunkt wichtig? Oder das Kabinett 3 mit PKW-Maut und Mütterrente? Kabinett 4 mit dem Heimatministerium? Wann immer es zu Koalitionsverhandlungen kommt, scheint die Logik von Wichtigkeit und Dringlichkeit vor der Tür zu bleiben und so landen Themen im Koalitionsvertrag (der bindend ist), die weder wichtig noch dringend sind. Manche nennen diesen Verhandlungsprozess einen demokratischen „Kompromiss“, ich halte aber einen Kompromiss in der Prioritätensetzung für viel wichtiger, als einen Kompromiss über wahllos zusammengesetzte Maßnahmen.


Prioritäten stellen schließlich auch einen Fahrplan dar, der die richtigen demokratischen Entscheidungen im Einklang mit unserer langfristigen Strategie und damit dem Zielbild unserer Gesellschaft von morgen ordnet. Im aktuellen politischen Betrieb werden Prioritäten denkbar schlecht ermittelt. Sie sind durch Krisen, Einflussnahme von Drittstaaten, Lobbyismus, Agenda-Setting und reichweitenstarke Meinungsmacher beeinflusst. Die Wähler kennen weder die Hintergründe noch die Absichten dieser Beeinflussung, was einen zutiefst undemokratischen Zustand darstellt. Darüber hinaus erstickt das inflationär betriebene Framing jedwede inhaltliche Diskussion. Es versimpelt komplexe Zusammenhänge und verengt die Perspektive auf etwaige bessere Lösungen.




Der demokratische Weg – über Parteiprogramm und Programmatik – setzt Prioritäten aufgrund von Wahl- und Meinungsumfragen. Parteien suchen ewig im Dunklen danach, was den Wählern unter den Nägeln brennen könnte, und lesen die Richtigkeit ihrer Themensetzung an den Zustimmungswerten der Sonntagsfrage ab. Dabei sollte jeder, der mit repräsentativen Meinungsumfragen arbeitet, wissen, dass selbst bei übertrieben großen Stichproben letztlich die wichtigsten Themen genau die sind, die zuvor die größte mediale Aufmerksamkeit und damit Reichweite erhielten. (siehe Brexit) Umfragen bilden meistens Themenreichweiten ab. Wenn also Meinungsumfragen die Wichtigkeit von Themen abbilden, die durch Medienreichweite erzeugt wurde, welche wiederum unter oben genannten Einflüssen steht (Agenda-Setting, Krisen, Lobbyismus), dann sollten Meinungsumfragen nicht das Mittel der Wahl sein, um Prioritäten abzulesen. Erschwerend kommt hinzu, dass Parteiprogramme durch Parteitagsbeschlüsse oder Urwahlen legitimiert werden, die unter den gleichen Einflüssen (PR, Öffentlichkeitsarbeit etc.) stehen können.

Der heutige Weg der politischen Prioritätensetzung ist somit wenig transparent, wenig effizient, wenig demokratisch und – am schwerwiegendsten − wenig strategisch langfristig angelegt, und ich bilde mir ein, dass man das als Kleinteiligkeit deutscher Politik wahrnehmen kann.

Daher halte ich eine Trennung zwischen Lösungsfindung und Prioritätensetzung dringend empfehlenswert, um unabhängige Politik mit Weitsicht für die Bevölkerung umzusetzen.  Diese Trennung kann gelingen, indem unser demokratischer Prozess ein Update erhält. 

Nach wie vor wählen wir mit unserer Erst- und Zweitstimme die politischen Mehrheiten im Parlament. Nach dem Update erhält jedoch jeder Wähler eine dritte Stimme, mit der er die Schwerpunktsetzung der nächsten Regierung bestimmt. Angenommen eine unabhängige Kommission, oder vielleicht sogar basisdemokratische Elemente (Petitionen, Vorwahlen etc.) sorgen für eine Vorverdichtung und Auswahl von beispielsweise 20 Themen, wie innere Sicherheit, Vermögensverteilung, Altersvorsorge, Pflege, Bildung, Gesundheitsversorgung, Besteuerung, Außenpolitik etc.
Der Wähler wählt aus dieser Liste aus, welches Thema die höchste Priorität in den nächsten 4 Jahren erfahren sollte, und am Ende eines Wahlabends erhalten wir eine Rangfolge der Schwerpunkte des Regierungsprogramms sowie die „Tonalität“, mit der diese Schwerpunkte angegangen werden sollen: konservativ, progressiv, links, rechts, grün, liberal etc. 


Was wir dadurch erreichen könnten:
  1. Populistische Kräfte werden extrem geschwächt
    Ein-Thema-Parteien können nicht durch Profilierung und Zuspitzung im Wahlkampf die gesamte politische Debatte bestimmen, wie es die AfD zum Beispiel im vergangenen Wahlkampf tat. Migration war lediglich eine Herausforderung unter sehr vielen; dennoch war die Presse- und Debattenabdeckung vollkommen von diesem Thema überschattet. Würde die To-Do-Liste durch den Wähler bestimmt, drehten sich unsere Debatten um die besten Ideen und Lösungskonzepte aller wichtigen Fragestellungen und nicht nur um einzelne Fragen.
  2. Kompetenzen gewinnen Wahlen
    Da in diesem Verfahren lösungsorientiert gearbeitet werden muss, werden Politiker und Parteien mit einem hohen Maß an fachlicher Kompetenz und Verhandlungsgeschick das Vertrauen der Wähler gewinnen. Taktieren und parteipolitisches Geschacher würden ins Leere laufen, da die Agenda bereits vorgegeben ist. Der wachsende Vorwurf, wir würden aktuell von Berufspolitikern ohne Kontakt zur Alltagsrealität der Menschen regiert, wäre dann kein Vorwurf mehr, sondern vielmehr eine Kompetenzzuschreibung: das Wissen um die Beschaffung von  Mehrheiten und das Erreichen tragfähiger Lösungen wäre zur Bearbeitung der priorisierten Themen unerlässlich.
  3. Transparente Koalitionsverhandlungen Undurchsichtige Deals und die Einflussnahme Dritter (Lobbyismus) würden in diesem Verfahren nicht mehr funktionieren, denn a) wäre im Vorfeld transparent, worum es in den Verhandlungen gehen wird, und b) könnten Lobbyisten, Verbände  und „Netzwerke“ vorher nicht wissen, welche Themen das Volk als wichtig erachtet. Zudem wäre bis zur Fertigstellung der Agenda nicht bekannt, welche Personen mit der Bearbeitung der priorisierten Themen betraut werden, und das erschwert die politische Einflussnahme von Interessensgruppen enorm!
  4. Renaissance der Programmatik / Ideologien
    In einem solchen getrennten Verfahren wird es interessant zu beobachten sein, wie Parteien um die Wählergunst werben werden. Zwar können Parteien immer noch Schwerpunkte im Wahlkampf setzen, aber sie wissen nicht, ob sie auch mit der Lösungsfindung derselben beauftragt werden (z. B. CDU/CSU müsste das Klimaproblem lösen, oder die Grünen müssten sich mit innerer Sicherheit beschäftigen). Wähler würden zunehmend auf die Tonalität achten, sich z. B. eine liberale Lösung für Problem XY wünschen oder eine grüne Antwort auf Herausforderung Z.
    Parteien müssten sich wieder deutlich mehr mit programmatischen, ideologischen und auch visionären Konzepten beschäftigen und langfristige Gesellschaftskonzepte entwickeln, da der Wähler ihnen durchaus auch sachfremde Thematiken anvertrauen wird.
  5. Keine besorgten Bürger mehr Mit der Einführung der dritten Stimme dürfte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die Sorgen der Bürger ernstgenommen werden.
  6. Endlich mehr Demokratie wagen
    Die dritte Stimme kann auch als Einstieg in eine basisdemokratischere Zukunft sein. Wo Petitionen (Schon einmal eine ePetition gestartet? Good luck!), Volksentscheide oder gar Liquid-Democracy-Ansätze scheiterten, sie lieferten die Lösung für ein Problem immer gleich mit. „Dies und das  verhindern“ oder „X und Y einführen“ bringt eine eindimensionale Lösung für das jeweilige Problem mit sich. Volksentscheide können lediglich für oder gegen etwas sein, es gibt aber nicht das Antwortfeld: „Ja, das ist mir wichtig, aber ich präferiere eine andere Lösung“. Unsere Welt ist hochkomplex, jede Entscheidung zieht etliche unbekannte Folgen nach sich, die in einem Volksbegehren nie vollumfänglich erörtert werden können. Einen Wettstreit um die besten Lösungen gibt es bislang nicht, nur einen für oder gegen die eine jeweilige Lösung. Daher kann eine dritte Stimme der Anfang sein, unsere politische Kultur nachhaltig zu verändern und den Weg in basisdemokratischere Zukunft ebnen.
Und was geschähe, wenn obendrein mit der dritten Stimme ein Budget verknüpft wäre? Die Wählerschaft könnte nicht nur die Dringlichkeit von Themen, sondern auch noch ein Investitionsvolumen zur Umsetzung allokieren. Gäbe es Überschüsse oder Dividenden, könnte der Souverän ähnlich einer Aktionärsversammlung darüber bestimmen, ob Überschüsse ausgeschüttet, reinvestiert oder angelegt werden sollen. 


Ein solches Vorgehen hätte erstaunlich viele positive Folgen, über die nachzudenken sich durchaus lohnt.



1.3 Freies Wissen als öffentliches, kostenloses Gut



So sehr ich versuche, einen richtigen oder auch nur logischen Zusammenhang zu finden, es gelingt mir nicht: Warum hält ein Wissenschaftsverlag, z. B. Elsevier, die Veröffentlichungsrechte an Forschungsergebnissen, die durch öffentliche Gelder finanziert wurden? Und warum verkauft ebendieser Verlag (und viele weitere Verlage, wie Springer) diese Forschungsergebnisse unverhältnismäßig teuer wieder zurück an Universitätsbibliotheken und Forschungsgesellschaften, von denen sie eigentlich stammen? In diesem System zahlen der Staat und damit die Bürger dreifach für eine Forschung: sie finanzieren die universitäre Forschung, die Veröffentlichung der Ergebnisse und die spätere Nutzung in Form von überteuerten Zeitschriftenabos (bis zu 40.000€ im Jahr für eine Fachzeitschrift!). Die Umsatzrendite von Elsevier lag 2016 bei verwerflichen 40%! Ein Umstand, der jedweder Logik und Moral entbehrt. 
Man stelle sich nun vor, das Wissen der Welt wäre frei verfügbar. Ein Wikipedia für Patente, Forschungen und Daten. Jeder hätte die Möglichkeit, mit dem bereits bestehenden Wissen neue Technologien, gesellschaftliche Innovationen und vieles mehr zu entwickeln. Es gibt zugegebenermaßen bereits einige Open-Source- und Open-Access-Projekte sowie Boykotte, die gegen den beschriebenen Missstand angehen und die versuchen, das Wissen zu vergesellschaftlichen und den Zugang zu diesem Wissen offen zu gestalten; allerdings stehen wirtschaftliche Interessen von Rechteinhabern diesen Zielen in vielen Fällen entgegen. Weiterhin kümmern sich diese Initiativen lediglich um wissenschaftliche Publikationen und den akademischen Veröffentlichungsprozess. Patente sind dort nicht berücksichtigt, aber gerade Patente sind realwirtschaftlich von größter Bedeutung, werden sie doch mitunter von Konzernen gekauft, nicht um sie ein- und umzusetzen, sondern um konkurrierende Technologien zu unterdrücken und Wettbewerb zu verhindern. Dies steht im deutlichen Gegensatz zum kapitalistischen, marktwirtschaftlichen Grundprinzip, denn in einer (Wissens-)ökonomie müssten stets die besten Konzepte gewinnen. In der Realität aber spielen andere Faktoren eine Rolle − Finanzkraft, Marktzugang, geschlossene Ökosysteme −, und diese Faktoren verhindern Wettbewerb, anstatt ihn zu fördern. 
In einer Gesellschaft, in der Verfahrenstechniken, Daten und Patente frei wären, könnten Innovationen schneller entstehen. Angenommen, sämtliche Forschung und Entwicklung würde durch öffentliche Gelder finanziert werden, um Grundlagenforschung, neue Verfahren und Methoden zu erzeugen und sie dem Markt kostenlos zur Verfügung zu stellen: was würde passieren? 
Es würden private Marktteilnehmer Patente nutzen und sich auf die Vermarktung und Verteilung von Innovationen spezialisieren, andere Teilnehmer wiederum würden sich auf die Produktion spezialisieren. Sie würden Patente nutzen und sie marktfähig machen. Es entstünde ein Wettbewerb zur schnellsten und wirtschaftlich sinnvollsten Nutzung neuer Erkenntnisse, bei dem die effizientesten Teilnehmer am Markt überleben können
Das Kapital fließt in einem solchen Szenario zu jenen Wirtschaftseinheiten, die ihre Prozesse und ihre Verfahren stetig optimieren, um rentabel zu bleiben. Belohnt würden also der kontinuierliche Verbesserungsprozess, der Fortschritt und die Weiterentwicklung und nicht das geschlossene System, die Monopolisierung oder die Höhe der Barrieren für den Eintritt in eine Branche, wie es aktuell der Fall ist.
Viele Kritiker sehen in der Vergesellschaftung von Patenten den Tod der Innovation und des Fortschritts. Warum sollten Unternehmen in F&E investieren, wenn ihnen daraus kein Wettbewerbsvorteil erwächst? Hier möchte ich anmerken, dass die Firmen dies auch weiterhin tun können, und dass es vielmehr nötig sein wird, eigene Forschung und Entwicklung zu betreiben, um die Anwendbarkeit von neuen öffentlichen Patenten für ihre Industrie sicherzustellen. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass offene Patente die Innovationskraft und -geschwindigkeit auf ein vollkommen neues Level heben würden!
Auch werden sicher einige Leser vermuten, dass die öffentlichen Haushalte nicht ausreichen werden, um den gesamten F&E-Aufwand Deutschlands oder Europas zu decken. 
Schon heute werden Patente lizenziert, wodurch der Patentinhaber Einkommen erzielt. In meiner Utopie ist der Patentinhaber der Staat und vergibt kostenlos Lizenzen (Nutzungsrechte) nach transparenten Regelungen an Dritte. Jeder inkrementelle Euro Umsatz, der durch die Vermarktung der Patente durch private Wirtschaftseinheiten entstünde, erzeugte wiederum Unternehmenssteuern für den Staat. Würde die durchschnittliche F&E-Quote der deutschen Industrie, die je nach Angaben zwischen 3% und 7% ihres Umsatzes liegt, als F&E-Aufschlag auf die Unternehmensbesteuerung (z. B. Umsatzsteuer) erhoben, wäre ebenso viel Geld verfügbar wie bei einer Finanzierung jedes einzelnen Unternehmens; nur könnte die Forschung gebündelter und effizienter gestaltet werden. Bosch oder Siemens würden von Erkenntnissen aus der Fusionskraft profitieren, Bayer von der Charité oder der mittelständische Spezialmaschinenhersteller von den neuen Pressverfahren der KIT oder einer anderen Helmholtz-Gemeinschaft. Und das kostenfrei! 
Es klingt natürlich in Zeiten von BER absurd, dass ausgerechnet der Staat für Innovationen sorgen kann, aber im 21. Jahrhundert werden Bildung, Wissenschaft und Forschung jene Bereiche sein, die Wohlstand erzeugen. In einer Digitalwirtschaft spielen Produktions- und Herstellungskosten schon heute keine Rolle mehr und in einer zunehmend automatisierten und digitalisierten Arbeitswelt nimmt die Bedeutung (und berufliche Attraktivität) der „klassischen“ Facharbeitskräfte weiter ab. Es ist schlicht notwendig, alle Bereiche in eine Wissensgesellschaft zu transformieren, und ist nicht eine Zukunft, in der wir zu einer Gesellschaft der Dichter, Denker und Forscher geworden sind, erstrebenswert? 
Zudem: Schon immer sind visionäre Technologien staatlich finanziert und gefördert worden: Grundlagenforschung, die Atomkraft, GPS & Galileo, die Raumfahrt (das Apollo-Programm war in der Hochphase der 1960 und 70er Jahre sogar im 10-jährigen Mittel mit 2,5 % des US-Bruttoinlandsprodukts gigantisch teuer), das Internet und WWW, die Fusionskraft und so weiter. Selbst das iPhone, dass als Sinnbild privatwirtschaftlicher Innovation gefeiert wird, besteht ausschließlich aus Einzeltechnologien, die vom Staat finanziert wurden.
Das ist kein Plädoyer gegen die Marktwirtschaft! Ich halte die Marktwirtschaft für ein extrem effizientes Prinzip, die Ressourcen und Mittel auf der „letzten“ Meile optimal zu verteilen und so Technologien und Produkte effizient und nutzerfreundlich zur Marktreife zu bringen. Aber die freie Marktwirtschaft würde nie in vollkommen unsicheren Bereichen forschen, deren Machbarkeit nicht sicher ist oder der Return-on-Investment nicht in den nächsten 10 Jahren positiv ausfallen würde. Kein privater Investor glaubt an visionäre Technologien, die zur Erlangung der Marktreife länger als ein Menschenleben benötigen werden, denn er würde die Rendite des Risikos zu Lebzeiten nicht mehr erleben können. Staaten jedoch müssen diesen zeitlichen Horizont haben. Es sichert die Unabhängigkeit zukünftiger Generationen und damit die Steuereinnahmen der Zukunft. Und mit jeder revolutionären Technologie entsteht auch ein Markt, der Steuern und Arbeitsplätze generiert. Die privatwirtschaftliche Nutzung von öffentlichen Patenten müsste natürlich an Bedingungen geknüpft sein, z. B., dass die Patente nur an im deutschen oder europäischen Binnenmarkt ansässige Firmen vergeben werden dürfen, die sich verpflichten, Steuern in Deutschland oder Europa zu entrichten, Arbeitnehmerrechte einzuhalten und die Vermarktung der Technologie innerhalb einer gewissen Umsetzungsfrist zu realisieren. Ein solches System würde die europäische Wettbewerbsfähigkeit enorm stärken und zugleich unsere solidarischen und freiheitlichen Werte schützen können. Da die Patente im Besitz des Volkes sind, ist auch eine langfristig angelegte „Dividende“ möglich, die der Bevölkerung in 20, 40 oder 100 Jahren zu Gute kommen kann.

Ebenfalls wäre ein Staat und die Unternehmen gleichermaßen daran interessiert, Spitzenwissenschaft in Europa zu etablieren und intensiv in Bildung zu investieren – ein ehrliches Interesse, das weit über das übliche Lippenbekenntnis hinausginge. Würden sich im Binnenmarkt keine Interessenten für ein Patent finden lassen, könnte der Staat selbst in die internationale Vermarktung dessen treten und mit Lizenzgebühren gegenüber außereuropäischen Unternehmen die F&E-Aufwendungen gegenfinanzieren. Auch könnten es Unternehmen in Erwägung ziehen, ihren Hauptsitz nach Europa zu verlagern, um in den Genuss der freien Patente zu kommen.


In einem solchen System würde tatsächlich so etwas wie eine Wissensökonomie entstehen können, die postkapitalistisch, fortschrittsoptimistisch und solidarisch gleichermaßen ist. Free patents!



Fazit Kapitel Autonomie

Wenn wir eine Gesellschaft entwickeln, die die Herausforderungen der Automatisierung, Digitalisierung und Globalisierung menschlich, solidarisch und nachhaltig gestalten will, kann das nur durch Autonomie in der Energie, in der Wissensgenerierung und in der gemeinschaftlichen Verteilung der Dividenden geschehen. Verringern wir die Abhängigkeit in den zentralen Bereichen Politik, Energie und Wissen, können wir den Fortschritt zum Wohle dieser und der nächsten Generationen nutzen. Packen wir es an?


VISION 2: Zukunft Afrika

Im marktwirtschaftlichen System wird der Preis über Angebot und Nachfrage ermittelt. So entstehen Kaufpreise für Aktien, Produkte und auch der Staat ermittelt Preise für seine Dienstleistungen über diese Mechanik. Jeder Investitionsentscheidung steht eine Schätzung der zu erwartenden Nachfrage gegenüber, anhand derer festgemacht wird, ob sich eine Investition amortisiert und Profit generieren kann, in der Business-Sprache heißt das „Return on Investment“. Wieviel Return kann erwartet werden, und wie lange wird es dauern, bis sich das Investment nettopositiv auszahlt. So weit so bekannt. Doch einen entscheidenden Haken hat diese Logik: Sie überblickt bestenfalls mittelfristig die Entwicklungen der Nachfrage.
Nun, versetzen wir uns in die Lage eines Investors des frühen 18.Jahrhunderts. In der spätfeudalen „Höhle des Löwen“ taucht ein Typ namens Voltaire auf, und pitched die Idee der Aufklärung:
  • Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz, mit der man sich von althergebrachten, starren und überholten Vorstellungen und Ideologien „auch gegen den Widerstand von Tradition und Gewohnheitsrecht“ befreit
  • Kampf gegen Vorurteile und die Hinwendung zu den Naturwissenschaften, das Plädoyer für religiöse Toleranz und die Orientierung am Naturrecht
  • mehr persönliche Handlungsfreiheit (Emanzipation), Bildung, Bürgerrechte, allgemeine Menschenrechte und das Gemeinwohl als Staatspflicht (Quelle: Wikipedia)
Frage: Was könnte der Return-on-Investment dieser Idee sein? Eine Idee, aus der die Theorien von Hegel, Nietzsche, Kant, Adam Smith, Marx u.v.m. entstand; aus deren direkte Folgen die Französische Revolution erwuchs, die Befreiung der Arbeiterschicht, die Demokratie, das ganze immense Potential der Menschheit geweckt wurde. Was wäre der ROI dieser Idee? Und hätte das ein Carsten Maschmeyer in der Höhle der Löwen bewerten können?
Es gab im 18. Jahrhundert keine Nachfrage nach einem Konzept der Aufklärung. Es war schlicht unmöglich, einen Preis zu ermitteln. Diese Idee hätte keinen Investor gefunden, dennoch setzte sie sich durch, führte zu grundlegenden Veränderungen in allen Ebenen unsere Gesellschaften, weltweit und bis heute, 300 Jahre später.
Ein Blick in die Verfassungen und Grundgesetze, in das Völkerrecht und UN-Charta zeigen, dass der Geist der Aufklärung - Freiheit, Gleichheit, Solidarität - in all diesen Schriften verankert ist. Eine humanistische, auf Vernunft basierte Idee macht Karriere. Es ist ein Verdienst von Europäischen Vordenker, die noch heute viele Menschen weltweit begeistert – so sehr, dass sie Land und Leute zurücklassen, um in Europa oder den USA Teile dieser Freiheit, dieser Vernunft und dieser humanistischen Lebensart und -Kultur und ja, auch dieses Wohlstandstandes zu werden. Unsere europäischen, liberalen Werte sind der wahre Pull-Effekt, von dem in konservativen Kreisen gesprochen wird, wenn es um Anreize zur Migration geht. Freiheit bedeutet, selbst entscheiden zu können, wie man das eigene Leben bestreiten will. Wäre Wohlstand der alleinige Grund für Menschen aus Afrika, all die Gefahren der Flucht auf sich zunehmen, würden sie doch eher in naheliegende, wirtschaftlich prosperierende Region streben: Saudi Arabien und andere arabische Ölstaaten. Sie suchen aber den Weg nach Europa, denn nur hier ist Freiheit Grundrecht.
Und hier schließt sich der Kreis: Wenn auf diesem Kontinent etwas vorherrscht, dass in anderen Teilen der Erde nicht gegeben ist, und eine derartige Anziehungskraft erzeugt, dass Menschen buchstäblich ihr Leben riskieren, um zu uns zu kommen, dann haben wir neudeutsch gesprochen einen echten Unique Selling Point. Etwas, dass uns einzigartig macht, etwas das wir pflegen müssen, verteidigen müssen, und auch nutzen sollten. Ein Europa als Festung freiheitlicher und solidarischer Werte, als ein humanistischer Ort, wo Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht nur theoretisches Recht, sondern auch Lebensrealität ist. Ein Verdienst der Aufklärung!
Auf unsere Europäische Union, unser europäisches „Projekt“ schauen seit über 60 Jahren viele Menschen. Sie wollen etwas beobachten, was es so noch nie in der Geschichte der Menschheit gegeben hat: eine friedliche Abtretung von nationalen Kompetenzen, also Macht, auf eine übergeordnete Staatengemeinschaft, ob in der Geldpolitik und Grenzsicherung, in Gesetzgebungsverfahren bis hin zu einem beträchtlichen Teil des nationalen Staatsetats. Nicht alle Beobachter interessieren sich für einen positiven Ausgang dieses Experiments, einige bekämpfen sogar aktiv die Vereinigungsbemühungen, sei es aus geopolitischen Überlegungen, spekulatives Interesse oder Spaltungsbemühungen um das politische und wirtschaftliche Gewicht und Einfluss der EU zu verringern. Allein die Tatsache, dass nicht jeder Beobachter unseres europäischen Projekts dieser Idee friedlich gegenübersteht, zeigt doch eindrucksvoll, wie bedrohlich offenbar für andere Nationalstaaten eine erfolgreiche europäische Vereinigung sein könnte.
Nun, hätten wir Europäer den Mut und die Erkenntnis, unsere „Assets“ (Werte) sowie unser politisches und wirtschaftliches Gewicht für unsere strategischen Ziele nutzbar zu machen, könnten wir sehr große Probleme lösen.
Das erfordert allerdings Einigkeit in der Europäischen Vision und vor allem die Erkenntnis und Pflege unserer Werte als übergeordnetes Gut!
Dann wäre auch etwas wahrhaft Utopisches möglich: die Fusion der Europäischen Union mit der Afrikanischen Union. Ich gebe zu, dass mag unter aktuellen Gesichtspunkten (Brexit, Abschottung, Nationalismus) verrückt klingen, könnte aber tatsächlich große aktuelle und zukünftige Probleme unseres Kontinents lösen:
1. Migration: Ein Beweggrund der afrikanischen Flüchtlinge ist die Aussicht auf ein besseres, sicheres Leben. Würde die Europäische Union sich afrikanischer Staaten öffnen, und Beitrittsverhandlungen mit dem Sudan, Nordafrikanischen Staaten oder auch Nigeria führen, stets unter der Maßgabe der Anerkennung und Einführung der EU-Beitrittsbedingungen (Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Demokratie etc.), was würde passieren? Würden Millionen Marokkaner, die nun Niederlassungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Unantastbarkeit ihrer Würde in ihrer Heimat garantiert bekämen, wirklich noch alle nach Europa einwandern wollen? Würden sie nicht die enormen Chancen im eigenen Land, in ihrer eigenen Kultur, in ihrer eigenen Sprache und mithilfe ihres eigenen Netzwerkes wahrnehmen, als in Deutschland zunächst 12 Monate Sprachkurs machen zu müssen und irgendeinen unqualifizierte Niedriglohnjob auszuüben?
Das ist kein utopisches Szenario! Die EU praktiziert es schon, seit Jahrzehnten mit Überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten. Es gibt eben keine Einwanderungswellen aus Französisch Polynesien, Staint-Martin oder Reunion, auch wenn diese in wirtschaftlich schwachen Regionen liegen. Selbst das Wanderungssaldo aus den „Armenhäusern“ der EU nach Einführung der Freizügigkeit hat in den vergangen 9 Jahren eine überschaubare Migration mit sich gebracht. So sind z.B. aus Bulgarien (2009 – 2018 im Saldo) netto nur 244.000 und aus Rumänien 517.000 Personen nach Deutschland gezogen. Das entspricht 2,7% der rumänischen und 3,5% der bulgarischen Bevölkerung, kumuliert in neun Jahren! Es sind tatsächlich die Wenigsten, die wirklich aufbrechen und alles zurück lassen.
Das ist der statistische Blick aber die Haltungsfrage ist natürlich eine ganz andere. Die meisten politischen Kräfte beteuern immer und überall, dass die Flüchtlingsursachen bekämpft werden müssen um wirksam illegale Einwanderung zu stoppen. Walk the walk and talk the talk: Wollten wir wirklich Flüchtlingsursachen bekämpfen, böten wir den afrikanischen Völkern an, in ihren Heimatländern für bessere persönliche, rechtsstaatliche und ökonomische Bedingungen zu sorgen. Ein EU-Beitritt käme dem gleich, denn sie müssten in ihrem Land eben diese Bedingungen einfordern. Es bedarf sicher viel Aufklärung in der Bevölkerung und ein Umdenken der herrschenden politischen Institutionen und dies ist gewiss nicht in zehn Jahren umsetzbar, aber es stellt einen ernsthaften Anreiz in den afrikanischen Ländern dar, um einen freiheitlichen, demokratischen Prozess anzustoßen, mit der Folge, dass weniger Menschen ihre Hoffnung auf ein besseres Leben ausschließlich in Europa sehen.

2.  Zugang zu Ressourcen, Sonne und Sand. Zum letzten Ölpreisschock 2008 entstand die utopische Idee des DESERTEC, einer Vereinigung der größten deutschen Industrie- und Finanzunternehmen, mit dem Ziel eine gewaltige Solaranlage in Nordafrika zu errichten, um eine Großteil des europäischen Energiebedarf zu decken. Als der Ölpreis in den folgenden zwölf Monaten vom all-time-high $140 pro Fass auf $40 sank, war das Konsortium ebenso schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war. Während die Begeisterung für dieses Projekt hoch war, wurden dennoch immer wieder Zweifel an den Erfolgsaussichten geäußert. Der Grund: politische Unsicherheit und Instabilität in Nordafrika. Man befürchtete, viele dutzende Milliarden Euro in Staaten zu investieren, die (im Jahre 2008, also vor dem arabischen Frühling) autokratisch regiert wurden. Mit einer Afrikaerweiterung der EU würde politische Stabilität in solchen sonnenreichen Regionen per Gesetz gewährleistet. Eine Idee wie DESERTEC könnte zudem einen gewaltigen Investitionsschub nach Afrika bringen, die die Wirtschaft und die Gesellschaft prosperieren lassen würde. Dies ist nicht nur ein strategisch wichtiger Aspekt zur Erlangung einer Energieautonomie bei gleichzeitiger CO2 Neutralität, sondern würde die Ungleichheit zwischen Europa und Afrika erheblich reduzieren; eine win (EU)- win (Afrika) - win (Klima)-Situation.
3.  Zukunftsmärkte: Die Entwicklung Afrikas wird in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer völlig falsch bewertet. Ein Blick in die Langzeitstatistiken zeigt, dass sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich enorme Fortschritte erzielt wurden. In den letzten 20 Jahren ist in der überwiegenden Mehrheit afrikanischer Staaten eine beachtliche Verbesserung der Lebensumstände erreicht worden, es ist so etwas wie eine Mittelschicht entstanden, auch die Gesundheitsversorgung und Bildung hat sich substanziell verbessert. Die Kindersterblichkeit ist dramatisch gesenkt, die Produktivität und die Sicherheit immens gesteigert worden. Dieser Kontinent ist das „neue“ Asien, ein Markt mit bald 2 Milliarden Menschen, die schnell zu uns Europäern aufschließen. Einen gemeinsamen Binnenmarkt könnte einen Boost für Afrikas Wirtschaft bedeuten und gleichermaßen unseren Wohlstand und unsere politische Bedeutung auf der Welt auf Jahrhunderte festigen. Afrika und Europa liegen in ähnlichen Zeitzonen, wir teilen viele europäische Sprachen und uns trennt geografisch lediglich das Mittelmeer. Es geht nicht um einen neuen Imperialismus, es geht um strategische Partnerschaften des 21. Jahrhunderts. In dieser Hinsicht ist Afrika sowohl als gewaltiger, wachsender Markt mit großen Rohstoffreserven aber auch als zukünftiges politisches Gewicht und im geopolitischen Stabilitäts- und Sicherheitsgefüge eine historisch Chance. Wir brauchen die Afrikaner mehr als umgekehrt.
4.  Versöhnung: Offen gesprochen, unsere historischen Schulden gegenüber Afrika sind nicht zu beziffern. Durch den Imperialismus des 18. Und 19. Jahrhunderts, durch Ausbeutung und Völkermord trugen wir eine Hauptschuld am „verlorenen“ 20. Jahrhunderts Afrikas. Eine Öffnung der Europäischen Idee, des gigantischen Friedens- und Wohlstandsprojekts EU auf den Afrikanischen Kontinent wäre späte Wiedergutmachung für die Verwüstungen, die wir dort anrichteten. Italien, Frankreich, England, Deutschland, Niederlande, Portugal, Spanien, nahezu alle Europäischen Kolonialmächte müssen Schulden begleichen. Eine Afrika-EU-Fusion ist der bedeutungsvollste Schritt, den Europa machen kann - die aktuelle Entwicklungshilfe- und Fluchtabschreckungspolitik ist es gewiss nicht.
5.  Erderwärmung: Tatsächlich sind und werden im globalen Süden die Auswirkungen der Erderwärmung besonders heftig ausfallen. Extreme Trockenheit und Hitze sowie Überschwemmungen und Landschwund sind schon heute in einigen Ländern Zentral-, West- und Ostafrikas Realität, mit dem Resultat, dass immer größere Gebiete auf dem Kontinent für Menschen unbewohnbar werden. Selbst wenn morgen die Treibhausgasemissionen weltweit auf nahe null zurückgefahren werden könnten, würden diese Gebiete nicht wieder bewohnbar werden. Allein aus diesem Grund wird das Konzept geschlossener, nationaler Grenzen hinfällig werden, wenn Millionen von Menschen heimatlos und in Nachbarstaaten emigrieren müssen. Es wird passieren, es ist absehbar. Daher sollten wir alles dafür tun, heute schon für gute Lebensbedingungen in Afrika zu sorgen. Würden wir „safe harbours“ in weniger bedrohten Regionen in Afrika entwickeln können, die ebenfalls Klimaflüchtlinge aufnehmen können ohne die gesellschaftliche instabile zu werden, könnten Migrationsströme langfristig deutlich besser verteilt werden. Europa ist maßgeblich für die historischen Treibhausgasemissionen des 19. und 20. Jahrhunderts verantwortlich. Unser Wohlstand beruht letztlich auch darauf, dass die negativen Folgen der Industrialisierung in Afrika und sonst wo auf der Welt auftreten. Eine weitere Schuld, die wir begleichen müssen.
Alle o.g. Punkte, und die unzähligen vermeidbaren Mittelmeertoten sind Gründe genug, um über eine solche interkontinentale Erweiterung der EU ernsthaft nachzudenken. Auch wenn es abwegig klingt, so sei an dieser Stelle auf das weltberühmte Computerspiel „Sid Meiers Civilization II“  1999 verwiesen. Dieses Strategiespiel konnte man auf drei verschiedenen Wegen gewinnen: Kriegerisch, technologisch und kulturell.  Setzte man auf Letzteres und entwickelte eine attraktive Kultur, schlossen sich andere Zivilisationen dem eigenen Hoheitsgebiet an. Im übertragenen Sinne geht es genau darum, also lasst uns die Errungenschaften aus 300 Jahren Aufklärung, Völkerverständigung und interkulturellen Konsens nutzen, um die Herausforderungen der Klimawandels und der Energiefrage anzugehen.


VISION 3: Zeit ist das neue Geld

Zeit ist etwas sehr sonderbares. Sie ist relativ, sie ist subjektiv, nicht vermehrbar und letztlich für uns Menschen endlich. Die Zeiteinheiten Woche, Stunde oder auch die Sekunde sind Erfindungen der Menschheit. Wir hätten auch eine Woche mit 5 oder 10 Tagen definieren können, Wochentage und Wochenenden existieren zudem auch nicht in der Natur. Wir haben sie geschaffen um unser Gesellschaft besser zu organisieren. Das durchschnittliche mitteleuropäische Herz eines Menschen schlägt in etwa 2,800,000,000,000 mal und das ist letztlich unser verfügbares Zeitbudget. In modernen Gesellschaften wird viel getan, um unsere Zeit besser zu nutzen. Wir entwickeln ständig neue Technologien, um schneller von A nach B zu kommen, um Dinge automatisch oder weniger zeitaufwendig zu erledigen. Technologie hilft uns, mehr Tätigkeiten in kürzerer Zeit zu schaffen. Aber sobald eine Technologie eine gewisse Marktdurchdringung erlangt hat, egalisiert sich häufig der Zeitvorteil:
Beispiel 1: Eine Autofahrt in der Rushhour von Berlin Steglitz nach Berlin Pankow dauert etwa eine Stunde. Individuelle Verkehrsmittel sind zwar in der Lage, die Strecke von ~20km deutlich schneller zurückzulegen, aber durch die immense Zunahme des Gesamtverkehr auf den Straßen, Staus und deren Regelung durch Ampeln und Verkehrsberuhigung, ist der Zeitvorteil schneller Autos egalisiert. Die Fahrt dauert ebenso lange wie vor der Erfindung des Automobils: nämlich eine Stunde mit dem Fahrrad.
Beispiel 2: Vor Erfindung der E-Mail verbrachten Büroangestellte etwa zwei Stunden pro Tag zur Erledigung ihrer Korrespondenz. Mit digitalen Kommunikationsmitteln hat sich die Zeit, die für Briefe und Telegramme schreiben notwendig war, zwar erheblich reduziert, aber die Menge der zu erledigenden Korrespondenz (Telefonkonferenzen, E-Mail-Flut, Slack und Skype Chats) hat sich massiv vervielfacht, womit im Jahre 2019, über 30 Jahre nach der Einführung digitaler Kommunikationsmittel, der Büroangestellte wieder mindestens 2 Stunden pro Tag für die Korrespondenz benötigt. Der Zeitvorteil des technischen Fortschritts ist dahin.
Beispiel 3: Der eCommerce ist nur deshalb erfolgreich, weil es dem Konsumenten verspricht „bequem von zu Hause“ einkaufen zu gehen, also Zeit beim Konsum zu sparen. Dieses Versprechen hat den eCommerce Sektor gewaltig wachsen lassen. Dass der Käufer heute aus einem Sortiment von über 100.000 und mehr Artikeln auswählen kann, macht den Zeitvorteil allerdings zunichte, den es eigentlich versprach. Die Auswahl des richtigen Produktes dauert häufig länger, als in den nächstgelegenen Einzelhandel zu gehen. eCommerce hat sich übrigens in den Bereichen am schnellsten ausgebreitet, wo der Konsument bereits vorher wusste, was er kaufen will: Bücher, Technik, Reisen. Und er ist weniger profitabel in Bereichen, wo Informationen und Inspiration nötig sind: Lebensmittel, Kleidung, Wohnen und Baumärkte.
Was ich damit aufzeigen will, ist, dass technische Innovationen nicht automatisch zu mehr verfügbarer Zeit führen und wir uns sehr genau überlegen müssen, wofür wir unsere 24 Stunden pro Tag einsetzen wollen und wie unsere Gesellschaft Technologie nutzen kann, damit am Ende tatsächlich mehr Zeit bleibt. Denn nur technische Beschleunigung in unserem Alltag zu verankern, bedeutet keineswegs dass wir auch „gefühlt“ mehr Zeit haben oder unsere zusätzlich gewonnen Zeit sinnvoll verbringen. Wer also glaubt, dass technischer Fortschritt uns automatisch einen ewigen Urlaub – das Ende der Arbeit – bescheren wird, wird enttäuscht werden. Der Grund: Geld ist Zeit und Zeit ist Geld.

Zeitkapitalismus

Adam Smith entwickelte im späten 18. Jahrhundert einen unfertigen aber überaus interessanten Gedanken namens Arbeitswerttheorie. Er besagt, dass Wertschöpfung nur durch menschliche Arbeit erzeugt werden kann. Jede Maschine, die Güter erzeugt, kann lediglich den Maschineneigenwert auf die von ihr erzeugten Produkte übertragen. Beispiel: Der Wert einer Maschine, die durch Ingenieure und Mechaniker, also durch menschliche Arbeit hergestellt wurde, beträgt 1000 Stunden. Die Maschine stellt 1000 Güter her bevor es produktionsnotwendige Dinge, Werkzeuge, Wartung, Nachschub oder Pflege bedarf. Folglich kann der Wert (nicht Preis) der erzeugten Güter nur eine Stunde Arbeit (=1000h / 1000 Güter) betragen, bevor der Mensch bei Instandhaltungsarbeiten weiteren Wert hinzufügen muss. Ist die Maschine kaputt, kann sie keinen weiteren Wert auf neue Güter übertragen. Es braucht Arbeit um die Produktion am Laufen zu halten.
Dieser als „linke“ Theorie eingestufter Gedanke wurde zwar durch Marx und viele weitere Ökonomen kritisch betrachtet, weiterentwickelt, verworfen und kontrovers diskutiert, ist aber immer hochaktuell: keine Wertschöpfung durch Software-Codes oder Smartphone Apps, ohne das Hinzufügen von Softwarepflege, Serverwartung, Internet- und Energieversorgung. Es existiert kein funktionierender Algorithmus, der nicht von Menschen (Data Engineers und Data Scientists) angelernt oder gewartet werden muss und bei selbstlernenden Systemen (Machine Learning, Künstliche Intelligenz) durch den „Wert“ der von Menschen erzeugten Daten gefüttert werden muss, um eigenständig Entscheidungen zu treffen. Auch im post-industriellen Zeitalter scheint die menschliche Arbeit die wichtigste Ressource zu sein, die Wert schöpft und eben nicht Maschinen, Grund und Boden oder das Kapital.
Wenn also die menschliche Arbeit der Ursprung der Wertschöpfung ist, dann sind unsere geleisteten Arbeitsstunden der Quell des Wohlstandes und das Kapital lediglich die Heuristik, die bestimmt, wo Arbeit am wertvollsten einzusetzen ist. Unternehmer und Kapitalgesellschaften sind heute mehr denn je darauf angewiesen, dass Menschen Werte schaffen. Vielleicht nennen wir es nicht immer „Arbeit“, aber ein Konzern wie Facebook ist darauf angewiesen, dass Menschen ihre Erlebnisse mit anderen Nutzern teilen, Fotos hochladen, Beiträge liken, also “Arbeitszeit” auf ihren Plattformen verbringen. Würden die menschlichen User nicht Inhalte bereitstellen (Zeit investieren), wären die Timelines der Facebooks und Twitters gähnend leer und somit wertlos.
Ich arbeite in einer Unternehmensberatung und auch in dieser Dienstleistungsbranche wird es offensichtlich: In Rechnung gestellt werden menschliche Arbeitsstunden. Je besser das Team, die Arbeitserfahrung und Kreativität der Mitarbeiter, desto höher ist die Wertschöpfung und der damit zu erzielende Preis pro Arbeitsstunde. Alle Dienstleistungsbranchen funktionieren so und sie machen einen immer größeren Teil der Gesamtwertschöpfung unserer Gesellschaften aus.
Ich bin kein Ökonom oder Philosoph, aber gehen wir für den Moment davon aus, das die Arbeitswerttheorie richtig ist. Müssten dann nicht in Tarif- und Gehaltsverhandlungen aus Arbeitgebersicht immer eine Erhöhung der Arbeitszeit, und aus Arbeitnehmersicht immer eine Verknappung der Arbeitszeit angestrebt werden? Nach dem Angebot-Nachfrage-Prinzip würde dann der Arbeitsstundenpreis verhandelt werden, sprich der Lohn.
Frage an die Leser: Wie hast du während deiner letzten Gehaltsverhandlung einer aus deiner Sicht gerechtfertigten Erhöhung gerechtfertigt? Über deine bessere Leistung, größere Verantwortung, höhere Flexibilität oder Engagement? Oder hast du deine verfügbare Arbeitszeit als Verhandlungsmasse genutzt? Ich tippe auf ersteres. 
Wie würde ein Gehaltsgespräch ablaufen, wenn der Arbeitgeber eine Vergütung vorschlägt und der Arbeitnehmer die maximalen Wochenarbeitsstunden angibt, die er bereit ist für dieses Geld zu arbeiten? Es wäre eine völlig andere Verhandlung, weil sie den wertschöpfenden Teil des Arbeitnehmers in den Mittelpunkt stellt und nicht den zu erzielenden Verkaufspreis, den ein Arbeitgeber durch die Wertschöpfung erzielen würde. Der Acht-Stunden-Arbeitstag und die Fünf-Tage Arbeitswoche wären die Ausnahmen und nicht die Regel.
Im Übrigen müssten in einer solchen Welt die Bezeichnungen Arbeitnehmer und Arbeitgeber getauscht werden. Arbeiter würden zu Wertschöpfunggeber und Unternehmen zu Wertschöpfungnehmer, was das Kräfteverhältnis zwischen den beiden Verhandlungspartnern auf den Kopf stellen würde.
In der Mitte des letzten Jahrhunderts war das Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspartnern noch deutlich näher an der Parität als es seit 1990 der Fall ist. Parteien und Gewerkschaften wussten um die Bedeutung der Arbeiter und ihrer Arbeitszeit für den unternehmerischen Erfolg. Man organisierten sich und konnten kontinuierlich höhere Löhne bei geringeren Arbeitszeiten durchsetzen. Von 1960 bis 1990 ist der Reallohn um 20% gestiegen bei einer um 20% gesunkenen geleisteten Jahresarbeitsstunden pro Erwerbstätigen. Die Produktivität ist im gleichen Zeitraum enorm angestiegen (+90%), d.h. es konnte höherer Output in weniger Arbeitszeit bei besserer Bezahlung erzeugt werden. Selbst die um 16% gewachsene Zahl Erwerbstätiger leisteten zusammen rund -15% weniger Arbeitsstunden als noch 1960. 


Doch von 1990 bis 2018 wendete sich das Blatt: Zwar ist die Zahl der Erwerbstätigen wieder um knapp 16% gestiegen, aber die Gesamtarbeitsstunden ist nicht gesunken, sondern um 2% gewachsen. Wer jetzt denkt, die Erwerbstätigen hätten statt weniger zu arbeiten, höhere Löhne erkämpft, täuscht sich: Die Reallöhne sind 1990-2018 mit einem Wachstum von 2% nahezu stagniert. Und die Produktivität? Um 34% gestiegen. Wie kann das sein?

Unternehmen erkannten, dass Wettbewerb im Arbeitsmarkt die Löhne senkt, ohne den für den Output notwendigen Arbeitsaufwand zu verringern. Zuwanderung, eine Aktivierung der Arbeitsreserven (Jugendliche, Arbeitslose, Frauen, Rentner) führen zu einer Vergrößerung des verfügbaren Arbeitspotential bei gleichzeitig gestiegenem Arbeitnehmerwettbewerb. In Deutschland hat sich seit 1990 die Entwicklung der Löhne und Arbeitszeiten von dem weiterhin anwachsenden Bruttoinlandsprodukts entkoppelt, erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Mehr Menschen wurden dem Arbeitsmarkt hinzugefügt aber die Wochenarbeitszeit ist konstant geblieben, folglich stieg die Nachfrage nach Arbeit und die Reallöhne sanken.

Aus Arbeitgebersicht ist damit ein Rad ins Rollen gekommen, dass erhebliche Profite ermöglichte:
1. Mehr Menschen arbeiten, d.h. mehr Wert wird geschöpft. (Arbeitswerttheorie)
2. Das Arbeitszeitangebot übersteigt die Arbeitszeitnachfrage, d.h. Reallöhne sinken  (Preistheorie)
3. Immer mehr Haushalte benötigen aufgrund gesunkener Reallöhne ein Zweit- und Dritteinkommen, d.h. mehr Menschen stellen ihre Zeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung die wiederum Punkt 1 und 2 antreiben)
Die auseinandergehende Schere von Wertschöpfung und Wertverteilung wirft eine wichtige Frage auf: Wo ist der Wert geblieben, der durch Milliarden zusätzlich geleisteter Arbeitsstunden zwischen 1990 und 2018 erzeugt wurde?
Es gibt drei Gewinner dieses Systems:
  1. Vermögende, die Kapital bereitstellen um an der Arbeitsleistung Dritter zu verdienen
  2. Konzerne, die ihren Unternehmenswert durch die enorme zusätzliche Wertschöpfung mehr als verzehnfachten
  3. Der Staat, da er an jeder zusätzlich geleisteten Arbeitsstunde Steuern und mit jedem weiteren Erwerbstätigen Sozialabgaben einnimmt
Es ist ein mächtiges Dreigespann, das keinerlei Interesse daran hat, dass die Erwerbstätigen ihre Arbeitszeiten verringern. In diesem Kontext muss man die internationalen Finanzinvestitionen betrachten, die Unternehmensentscheidungen (Outsourcing, globale Arbeitsteilung, Fachkräftemangel) bewerten und letztlich auch die neoliberalen Staats- und Sozialreformen (Schwächung der Gewerkschaften ab 1970, Arbeitsmarktflexibilisierung, Beschäftigungszwang durch Sozialreformen/Hartz Gesetze) sehen:
Es sind Maßnahmen zur Vergrößerung der Gesamtarbeitsvolumen um eine höhere Wertschöpfung durch menschliche Arbeit zu erwirken. 

Ich halte diesen Trend für wenig zukunftsweisend. Einmal davon abgesehen, dass es einer gewaltigen Umverteilung von Wertschöpfenden zu Wertverwaltenden gleich kommt, sehe ich vorwiegend den unterdrückten technischen Fortschritt als Kernproblem dieser Mechanik. Bis 1990 ist der Produktivitätszuwachs auch den Arbeitern und Arbeiterinnen durch mehr frei verfügbare Zeit (kürzere Arbeitszeiten/mehr Urlaub) zu Gute gekommen. Je nach Dringlichkeit haben Gewerkschaften für höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeiten gekämpft. Der Arbeitgeber konnte lediglich durch höhere Produktivität seine Profitabilität steigern. Seitdem die Arbeitszeiten aber nicht mehr sinken, fehlten Anreize zur Prozessoptimierung und lässt die Produktivitätszuwächse stagnieren und zwar in allen westlichen Volkswirtschaften seit über 30 Jahren. Wenn ein knappes Gut, in diesem Falle die Arbeitszeit, nicht mehr knapp ist, fehlt der Anreiz zur Optimierung. 
Quelle: Postkapitalismus - Grundrisse einer kommenden Ökonomie; Paul Mason; suhrkamp 2016
Aus Unternehmenssicht ist es durch das Überangebot von Arbeitskräften eben einfacher, Wachstum durch „Human Resources“ zu erzielen als durch eine höhere Produktivität. Der Staat selbst hat sogar diese Entwicklung gefördert, indem er direkte Steuern auf Arbeit seit 1990 gesenkt aber indirekte Steuern erhöht hat (Mehrwertsteuern z.B.) Das heißt, er besteuert weniger die Wertschöpfung als vielmehr den Konsum und setzt Anreize, mehr zu arbeiten um mehr zu konsumieren. So wurden wir von Bürgern zu Konsumenten, auch aus der Perspektive des Staates.

Sozialer Effekt des Zeitkapitalismus

Gleichzeitig hat sich der Alltag der Beschäftigten enorm verdichtet. Dadurch, dass beide Elternteile zum Haushaltseinkommen beitragen müssen um über die Runden zu kommen, verschärft sich die binnen-familiäre Arbeitsteilung. Besserverdienende lagern Kindererziehung, alltägliche Dinge wie Einkaufen, Kochen und Putzen an „Dienstleister“ aus, um neben dem Job noch etwas Freizeit haben zu können. Geringverdiener müssen in Teilzeit gehen, da ihre Einkommen nicht ausreichen um zeitraubende Hausarbeit auszulagern und verarmen Zusehens. 
Jede Familie, die in der „Rushhour“ des Lebens steht, wird bestätigen können, dass Zeitmanagement, Selbstoptimierung und Selbstaufopferung die einzigen Wege sind, um den Spagat zwischen Job und Familie zu meistern. Wenn das Zeitbudget nicht reicht, wird weniger geschlafen und Freizeit gestrichen.
All dies wiederum befeuert die tatsächliche und gefühlte persönliche Zeitknappheit, die wir aus dem Auseinanderdriften der geleisteten Arbeitsvolumen und den Vermögensverteilung erleben. Zeit ist das neue Geld. Reich ist, wer sich viel Freizeit leisten kann: durch Personal Assistance, Lieferdienste aller Art (Lebensmittel, Bügelwäsche, selbst die Fahrt zur Autowerkstatt wird abgegeben), Au-pair-Mädchen oder Gärtnern. Es wird stetig an der Freizeit optimiert um mehr „erlebbare“ Zeit zu erlangen. Das kostet natürlich viel Geld und deshalb ist es auch nicht mehr möglich, die Arbeitszeit zu reduzieren. Interessanterweise reagieren wir also auf die Zeitverdichtung unseres Alltags nicht mit einer Arbeitszeitverkürzung sondern mit einer perfekt durch optimierten Hausarbeits- und Freizeit. Offensichtlich wird dies, wenn man den stetig wachsenden Anteil an Bullshit Jobs betrachtet: Hundesitter, Deliveroo-Fahrer, Sneaker-Reinigungsdienste sind nur einige Beispiele dieser Bullshit Jobs, die nur deshalb existieren, weil wir unsere Freizeit zu optimieren versuchen.

Wenn wir die schleichende Wertumverteilung, die damit verbundene Zeitverdichtung und -knappheit als Bürger nicht akzeptieren wollen, ergeben sich drei wesentliche Handlungsfelder:
  • Wir müssen das Interesse des Kapitals, der Arbeitgeber und des Staates an unserer Lebenszeit verstehen und für unsere Zeit kämpfen
  • Wir müssen freie Zeit als Wohlstandsfaktor begreifen und sie vermehren wollen
  • Wir müssen die Arbeitszeit statt die arbeitsfreie Zeit optimieren


Zeitwohlstand 


Stellen wir uns vor, es gäbe eine Partei, die den Wählern nicht mehr Geld, sondern mehr Zeit versprechen würde: Mehr Lebenszeit, mehr Zeit für Familie und Freunde, mehr Zeit für Gartenarbeit und Muße. Würde man mit diesem Versprechen Wähler gewinnen? Wissenschaftler nennen  das Zeitpolitik. Angenommen in unserer Gesellschaft würde Zeitpolitik betrieben: Sie würden versuchen, zu allererst „Zeitfresser“ zu reduzieren, das heißt repetitive oder lästige Aufgaben zu optimieren, zu automatisieren oder ganz zu vermeiden. Das umfasst Steuerangelegenheiten, Behördengänge, Wartezeiten im Allgemeinen, in anderen Worten: Entbürokratisierung mit dem Ziel, Prozesse und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen oder obsolet zu machen. Sicher keine schlechte Idee.
Als weiteren Punkt würde die Zeitpolitik gewiss die verschwendete Zeit für Pendelei und Reisen zu verkürzen versuchen durch Förderung von Homeoffice oder Telearbeit, durch dezentralisierte  Arbeits- und Wohngebieten, durch Optimierung der Verkehrsflüsse und auch durch Investitionen in neue, bessere Infrastruktur für Liefer- und Pendelverkehr. Sicher auch keine schlechte Idee!
Genauso wie man Zeit bei lästigen Tätigkeiten einsparen kann, könnte man ebenfalls versuchen, die verfügbare Zeit als Ganzes zu erhöhen, also die Lebenserwartung durch eine bessere Gesundheitsvorsorge, intensivierte Krebsforschung sowie frühere und bessere Pflege zu erhöhen. Da wird sicher auch niemand etwas dagegen haben.
Man würde sicher auch beginnen, die extreme Zeitkomprimierung am Anfang eines Menschenlebens zu reduzieren, dementsprechend Kinder erst wieder mit 7 Jahren einschulen und 13 Jahre Zeit geben bis zum Abitur oder auch das Bachelor/Mastersystem dekomprimieren. Dies geschehe aus dem einfachen Grund, da durch die gestiegene Lebenserwartung natürlich auch mehr „Arbeitszeit“ im späteren Teil des Lebens gewonnen werden könnte. Das Renteneintrittsalter mit 70 klingt deutlich weniger abschreckend, wenn man erst mit 30 Jahren in das Berufsleben startet. Ein Lebensmix von 30-40-30 Jahre (30 Jahre bilden – 40 Wert schöpfen – 30 Erfahrungen teilen) klingt bei einer Lebenserwartung von 100 Jahren doch viel plausibler als der aktuell angestrebte 20-40-40 Mix, wobei die letzten 40 Jahre des Lebens offenbar der Gesellschaft als Bürde statt als Errungenschaft verkauft wird.
Und letztlich würde eine Zeitdimension in der Politik auch dafür Sorge tragen, dass Produktivitätszuwächse wieder den Beschäftigten zu Gute kommt, d.h. weniger tägliche Arbeitszeit für alle. Bei den herumgeisternden Schreckensszenarien des zweiten Maschinenzeitalters (Digitalisierung und KI) sollen ohnehin weniger Arbeit zur Verfügung stehen als Arbeitskräfte vorhanden sind. Warum also nicht die dann noch vorhandene Arbeit auf mehreren Schultern verteilen und jeden erzielten Produktivitätszuwachs in Zeitzuwachs umwandeln. Eine solche Belohnungslogik, auch für die Wirtschaft und Industrie im Übrigen, würde Angestellte und Arbeiter wieder motivieren, Prozesse zu optimieren, technische aber auch kommunikative Innovationen zu entwickeln, da Angestellte an der gestiegenen Wertschöpfung - nämlich mehr verfügbare freie Zeit - direkt profitieren würden. 
Hypothetisch gefragt: Wer wollte nicht eine Drei-Tage-Arbeitswoche? Wer wollte nicht Arbeitsbeginn und -ende nach seiner persönlichen inneren Uhr richten. Wer wollte nicht weniger unnötige Meetings? Wer wollte nicht mehr Zeit mit Hobbies oder Familie verbringen? Wer wollte nicht weniger im Stau stehen oder im Wartezimmer eines Arztes sitzen müssen? Konsequente Zeitpolitik würde genau dies als Aufgabe haben.
Man stelle sich nun vor, dass Unternehmen nicht nach Umsatzrenditen sondern nach Zeitrenditen und Zeitprofite bewertet würden. Produkte und Dienstleistungen würden dort produziert und geleistet werden, wo sie am schnellsten (und daher am effizientesten) herzustellen sind. Dienstleistungen könnten deutlich massiver den Vorteil der Zeitverschiebungen nutzen, da sie etwas für Europäer anböten, was in der europäischen Nacht schlicht keiner machen kann oder will. Utopisch die Idee, dass in einer vollkommen globalisierten Welt ein Lehrer aus Thailand die Klausuren deutscher Schüler über Nacht kontrolliert, während ein deutsches Ingenieursteam die thailändische Nachtschicht einer Produktionsüberwachung übernimmt. Je mehr das produzierende Gewerbe automatisiert wird, desto einfacher kann die Verteilung der digitalisierbaren Aufgaben über den Globus erfolgen, vorausgesetzt die Anforderungen an Bildung, Qualität und Wertevorstellungen sind halbwegs ähnlich. In vielen Industrien ist das keine Zukunftsmusik sondern heute schon Alltag. In globalisierten und zeitkritischen Branchen wird globale Arbeitsteilung seit Jahren betrieben, etwa in Unternehmensberatungen, in der Finanzwelt oder in der Software- und Datenmodell -Entwicklung mit ihren „distributed“ teams.
Die Logik des Zeitprofitstrebens würde natürlich allerhand Branchen in den Ruin treiben, allen voran Branchen, die uns Zeit „kosten“: Die Werbe- und Digitalkonzerne zum Beispiel. Heute ist die Zeit, die Nutzer auf Plattformen verbringen die wichtigste Kennzahl in digitalen Unternehmen, sei es Social Media Plattformen, eCommerce und allen werbefinanzierten digitalen Medienangeboten. Unternehmen wie Facebook und Google, aber auch werbefinanzierte Online-Games verdienen nicht mit Reichweiten oder Daten Geld, sondern mit der Zeit, die ihre Nutzer auf den Plattformen verbringen. Die Logik dahinter: Wenn ein User mehr Zeit auf Facebook verbringt, können schlicht mehr Werbeanzeigen verkauft werden; ein fundamental anderes Konzept als noch klassische Medien, die Reichweiten (Auflagenstärke, Einschaltquoten) verkauften. Diese neue Prämisse führt zu grotesken Auswüchsen von „Gamification“, also Anreiz- und Belohnungssystemen, die den Nutzer immer länger auf ihren Plattformen halten. Das Infinite Scrolling (Social Media/Websites), Autoplay, automatisch abspielende Videos (Youtube, Twitter, etc), Recommendation Engines (Outbrain, Netflix, Amazon), Rewards, Batches, Rankings und selbst die Anzahl der Follower und Likes sind Funktionen, die dafür entwickelt wurden, mehr Zeit auf diesen Plattformen zu verbringen, um letztlich mehr Werbung ausspielen zu können. 
Datenkonzerne sind vielmehr Zeitkonzerne, die mithilfe von Nutzerdaten ihre Angebote optimieren um ihr Anzeigeninventar zu vergrößern. Oder anders ausgedrückt: Es wäre so, als ob die gedruckte Version vom Spiegel aufgrund deiner Interessen nach jedem gelesenen Artikel eine weitere Seite am Ende des Heftes hinzufügt, um darin mehr Werbung zu platzieren.
Nun, wenn also die wertvollsten Digitalunternehmen der Welt Profit mit unserer Zeit (oder Arbeit) machen und immer mehr Branchen „digitalisiert“ werden, liegt der Schluss nahe, dass nicht die Daten das Öl des 21. Jahrhunderts sind, sondern die Zeit der Menschen. Time is money! Es ist letztlich ein Wettbewerb um Aufmerksamkeit und damit um das einzig knappe Gut der Menschheit: Zeit - denn nur Zeit ermöglicht Konsum.
Ein Hinweis dafür kann die Preisentwicklung von Produkten und Dienstleistungen der letzten 20 Jahre in den USA sein. Wie man dort sehen kann, werden jene Dinge teurer, die existentieller Natur sind oder uns zusätzlich Zeit verschaffen können: Gesundheitsversorgung, Bildung, (denn gebildete Menschen leben länger), Kinderbetreuung, Wohnen und Nahrung.
Produkte jedoch, die Zeit kosten - sei es im Erwerb oder in der Benutzung - fallen, teils stark im Preis: Kleidung, Software, Smartphones, Fernseher. Mobilität bildet eine interessante Ausnahme, denn sie kann auch Zeit „schöpfen“, während wir Zeit mit ihr verbringen.
Wenn also Dienstleistungen und Produkte sich verbilligen, die um unsere Aufmerksamkeit wetteifern, muss folglich ein Geschäftsmodell mit unserer verfügbaren Zeit dahinter stecken. Würde jeder Mensch bewusster mit seiner Zeit umgehen, könnten Konzerne wie Facebook, Netflix oder andere Medien nicht funktionieren, denn bei jedem Scrollen, bei jeder weiteren automatisch gestarteten Folge einer Serien würden wir abwägen, ob das durch unsere Arbeit und den Produktivitätszugewinn „erwirtschaftete“ zusätzliche Zeitbudget es wirklich wert ist, zwei Stunden unserer Zeit auf Instagram zu verbringen. Und das steckt letztlich hinter der Idee des Zeitwohlstandes: Mehr Zeit zur Verfügung zu haben und diese nicht dem Konsum, sondern sinnstiftenden und sinnvollen Dingen zu widmen. 

Auch beim Staat muss ein Umdenken stattfinden. Der überwältigende Anteil der Steuereinnahmen wird durch die Lohn- und Einkommenssteuer sowie Konsum- und Verbrauchssteuer generiert. Hauptinteresse des Fiskus ist mehr Arbeit und mehr Konsum. Das steht aber im Widerspruch zu dem, was die meisten Menschen wirklich wollen: Leben.

„Vor einigen Jahren veröffentlichte die australische Autorin Bronnie Ware ein Buch mit dem Titel ‚5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Darin schilderte sie ihre Gespräche mit Patienten, die sie als Krankenschwester gepflegt hatte. Keiner dieser todkranken Menschen bereute, sich nicht eingehender mit den PowerPoint-Präsentationen seiner Kollegen befasst oder nicht ein wenig mehr über die bahnbrechende Co-Creation in der vernetzten Gesellschaft nachgedacht zu haben. Am meisten bedauerten die Menschen, dass sie nicht ihr eigenes Leben gelebt hatten, sondern eines, das ihre Umwelt von ihnen erwartet hatte. Und ihre zweite Klage: ‚Ich wünschte, ich hätte nicht so hart gearbeitet‘.
Aus Utopien für Realisten, Rutger Bregman, Rowohlt 2018
Der Staat muss also andere Einnahmequellen finden, die im Einklang mit den wichtigen Dingen im Leben stehen. Er könnte z.B. Vermögen hoch besteuern, denn diese können nach der Arbeitswerttheorie ja nur durch die Ausbeutung von menschlicher Arbeit entstanden sein. Aktuell tut er es überhaupt nicht. 0% Vermögenssteuer.
Er müsste auch entschiedener den Output der Unternehmen besteuern, um sie sowohl bei der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben stärker zu beteiligen als auch Produktivitätssteigerungen anreizen. 

Die Kapitalertragsteuer müsste höher sein als die Lohnsteuern, da auch Renditen und Zinsen nur durch menschliche Arbeitszeit realisiert worden sein können. Doch aktuell tragen Kapitalertragssteuern nur geringfügig zum Staatsetat bei (rote Linie unten). Im Ranking der Staatseinnahmen stehen Arbeit, Konsum, Unternehmenserträge und erst an vierter Stelle das Kapital. Ein Umstand, der in einer Logik der Wertschöpfung durch Arbeit (Zeit) nicht mehr tragbar ist.
Quelle: Bundesministerium für Finanzen | Eigene Darstellung
Auch auf der Ausgabenseite ließe sich einiges ändern. Wenn den Beschäftigten wieder deutlich mehr persönliche Freizeit zur Verfügung stehen würde, könnten sie sich wieder selbst um die Kinderbetreuung und Angehörigenpflege kümmern. Sie könnten verstärkt im Ehrenamt, in der Nachbarschaftshilfe, in sozialen Einrichtungen tätig sein und den Staat in diesen Bereichen entlasten oder überflüssig machen. Auch könnte die neu gewonnene Freizeit wieder den weniger “produktiven” Dingen des Lebens gewidmet werden: den Hund spazieren führen oder die Wohnung putzen. Es würde zwar die Bullshit Jobs im Niedriglohnsektor gefährden, aber die Niedriglöhner und der Staat selbst verdient ohnehin nicht viel dabei - im Gegenteil: Der Fiskus subventioniert Bullshit Jobs über Aufstockung und Basisrenten/Grundsicherung über kurz oder lang mit sehr viel Geld - eine Subvention die nur dazu dient, unsere Freizeit zu optimieren, damit wir mehr arbeiten und mehr konsumieren können? 

Und auch eine nahezu digitalisierte und automatisierte Verwaltung könnte enorme finanzielle Kräfte freisetzen, die wiederum Steuererhöhungen obsolet machen könnte. Es scheint allerhand Einsparpotential zu geben, würden wir bewusster unsere Zeit verbringen!
Wohin mit all der neuen Zeit?


Die hinlänglich bekannte Maslowsche Bedürfnispyramide wurde in den 1970er Jahren um eine Stufe erweitert: Die der Selbstverwirklichung. Am Anfang stehen physiologische Bedürfnisse, dann Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse und Individualbedürfnisse, bevor es an die Selbstverwirklichung gehen kann. Der Mensch strebt nach Maslow zur nächst höheren Stufe, sobald die darunterliegenden befriedigt sind. 
Impliziert bedeutet das aber auch, dass sich nur diejenigen selbst verwirklichen können, die am wenigsten ihrer verfügbaren Zeit für die Befriedigung der vorherigen Bedürfnisstufen aufwenden müssen.
Daher glaube ich, dass der überbordende Konsum der Individualbedürfnisse zwangsläufig verringert werden wird, um mehr Zeit für die Selbstverwirklichung zu gewinnen. Konsum und Entertainment kosten Zeit - zu viel Zeit, wenn man diese auch für die Befriedigung des Selbstverwirklichung hätte aufwenden können. Reiche und Wohlhabende sind derzeit die Einzigen, die nicht auf Einkünfte durch eigene Arbeit angewiesen sind. Sie allein bestimmen darüber, wie sie ihre Zeit nutzen wollen. Das sollte auch unser Streben in einer Gesellschaft von morgen sein.
Dabei kann Selbstverwirklichung alles Mögliche bedeuten; der eigene Garten, die Kindererziehung, Kunst und Kultur, das Mitwirken am Gemeinwohl oder der demokratischen Willensbildung bis hin zum Innovieren neuer philosophischer oder gesellschaftlicher Theorien. Dies alles sind Tätigkeiten, die keiner Return-on-Investment Logik unterworfen sind, denn sie finden außerhalb des Marktes statt. Sie bringen Freude statt Geld. Und noch viel mehr: Sie können nicht automatisiert oder durch künstliche Intelligenz (KI) abgeleistet werden.
KI wird stets nur Aufgaben für uns erledigen, für die wir sie angelernt haben. Möglicherweise wird sie neue Lösungswege für bekannte Probleme finden. Sie wird aber nicht neue Probleme definieren. Sie wird keine gesellschaftlichen Innovationen erzeugen können oder philosophische Gedanken wie die Aufklärung hervorbringen. Sie wird nie über den Tellerrand ihrer eigenen Datenbasis hinausschauen können. Eine risikoreiche Lösung ist eine unwahrscheinliche Lösung aus Sicht der KI. Die Ungewissheit ist deshalb eine unlösbare Aufgabe für künstliche Intelligenz.
Eine KI wird ebenfalls nie etwas Revolutionäres, Systemneudenkendes vorschlagen können, denn sie beruht auf unseren Daten, unseren Erfahrungen, unserem Wissen. Sie funktioniert auf Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten. Wenn keine Beobachtungen existieren, kann auch keine Korrelation erstellt werden können. Wir können folglich nicht von einer KI erwarten, dass sie uns in eine bessere Gesellschaftsform und Zukunft führt. Wir müssen sie stets anleiten und Probleme definieren, die sie für uns lösen soll. Aber sie kann repetitive Aufgaben übernehmen, sodass wir schließlich mehr Zeit haben, uns mit kreativen Dingen zu beschäftigen. Man stelle sich die gewaltigen menschlichen Ressourcen vor, die wir für das Entwickeln neuer Zukunftsmodelle aufwenden könnten, anstatt sie in Bullshit Jobs oder Steuererklärungen zu verschwenden. Das sollte die Zukunft sein: Zeit investieren, die die Menschheit als Ganzes voranbringen und Freude - nicht Entertainment - im Privaten erzeugen. Doch dafür brauchen wir erst einmal Zeitwohlstand.


VISION 4: Das Internet als internationales Gewässer
Quelle: The Principle of Sealand/Facebook/DailyBeast
Wenn wir uns an die Anfänge des Internets erinnern, herrschte damals eine gewisse Euphorie, das mit dieser Technologie die Machtverhältnisse völlig neu geordnet werden könnten. Es bedurfte nur einer Telefonleitung und eines Modems, um Menschen auf der ganzen Welt zu erreichen, Wissen und Meinungen auszutauschen. Die Gatekeeper Staat, Kapital und Medien könnten überwunden und jedermann zum Publizisten werden. 30 Jahre später ist das Internet durch kommerzialisiert, es sind neue Gatekeeper und neue Konfliktlinien entstanden. Jegliche Regulierungsversuche nationaler Institutionen sind ins leere gelaufen, da das Internet dezentral organisiert und größtenteils anonym ist. Es mangelt an der exekutiver Gewalt, geltendes Recht im Internet umzusetzen, wie sollte das auch gelingen? Datenbanken und Webseiten werden auf etlichen Servern gehostet, die auf verschiedenen Kontinenten stehen. Server sind virtuell, d.h. sie können binnen Millisekunden am anderen Ende der Welt „umziehen“. Welcher Gesetzeshüter kann da mithalten? Nationale Autoritäten sind zu einfach langsam und zu begrenzt in ihrem Wirkungsbereich.
Die Gesetzgebung betrachtete bisher die Netzwelt als Erweiterung nationaler Hoheitsgebiete. Es werden Persönlichkeits- oder Urheberrechte, Straf- und Steuergesetze auf das Internet erweitert, ohne jemals in der Lage zu sein, die Strafverfolgung erfolgreich umzusetzen. Das ist die Krux: das Internet gehört zu keinem Hoheitsgebiet, es ist virtuell, kennt keine Grenzzäune und Gerichtshöfe. Dennoch versuchen wir, es wie ein Nationalstaat zu behandeln. (Ein weiteres Indiz dafür, dass Nationalstaaten als Konzept in der Auflösung sind)
Es bräuchte also ein Gesetz, das von allen Ländern der Welt anerkannt wird und eine Strafverfolgung, die überall und zu jederzeit in der Lage wäre, einzugreifen und das notfalls in wenigen Stunden. Ersteres scheitert an den verschiedenen staatlichen Auffassungen wozu das Netz eigentlich gut ist (man denke an die USA, China, Europa als Kontraste) und letzteres scheitert an den nationalen Gesetzen, denn eine indonesische Polizei kann nur indonesisches Gesetze einhalten, nicht deutsche oder niederländische.
Wenn es nur einen rechtlichen Status gäbe, der sowohl von nahezu allen Nationen der Welt anerkannt und gleichermaßen Institutionen die Möglichkeit gäbe, die Einhaltung von Recht und Gesetz zu überwachen, wäre das Problem eigentlich gelöst. Das Seevölkerrecht wäre so etwas! Würden alle Staaten die digitale Welt als internationales Gewässer erklären, könnten sich nationale Polizeibehörden auf das Völkerrecht berufen um internationale Rechte zu überwachen. Es würde auch eine globale Steuer auf Einkünfte im Netz erleichtern und es würde bedeuten, dass niemand jemals das Internet besitzen könnte. Internationales Gewässer kann nicht besetzt, besitzt oder unterworfen werden. Das ist eigentlich keine Utopie, denn einen solchen Vorgang hat es schon einige mal gegeben: Beim Antarktis Vertrag 1959-1961 zum Beispiel. Er untersagt militärische, kommerzielle Nutzung, oder Gebietsansprüche. Ähnliche Vorgänge sind bei den Konventionen zur Nutzung des Ozeanbodens oder des Weltraums passiert. Und irgendwie passt es doch, wenn das Internet in die Reihe der Antarktis, des Weltraums und des Ozeanbodens gesellt. Es ist groß, es ist nicht beherrschbar und es gehört niemandem. Eine wunderbare Vorstellung und Lückenschluss zu den anarchischen Anfangstagen des Internets!



HINWEIS:


Ich betrachte die Ausführungen als Debattenauftakt! Es ist mir vollkommen klar, dass sie weder historischen, philosophischen, soziologischen oder sonstigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. In den kommenden Wochen werden weitere Teile hier erscheinen. 

Kommentare, Anmerkungen, Kritik oder gar ein Mitwirken sind ausdrücklich erwünscht. 
Per Kontaktformular, Linkedin, Twitter oder im persönlichen Gespräch.

Einige dieser Ideen werden auch im Visionen Podcast thematisiert:
https://www.visionen-podcast.de/

Florian L.

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Famous last words

"Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt" Tocotronic - 1995
"Look at the bottle, look at the glass, there is your future, there is your past"
Amyl And The Sniffers - 2018
"Don't you think we're terribly incompatible?" my wife Gwen said one tearful night. After ten years of happy marriage and six wonderful children, I knew these words signaled trouble
No Trend - 1982
"Jazz is not dead, it just smells funny."
Frank Zappa - 1974