Europäische Visionen: Zukunft Afrika

8/27/2019 07:07:00 PM

Zukunft Afrika

(alle Teile zu MillionenVisionen findest du hier)

Source: Wikipedia / Jean-Jacques Le Barbier / Erklärung der Menschen und Bürgerrechte 1789 
Im marktwirtschaftlichen System wird der Preis über Angebot und Nachfrage ermittelt. So entstehen Kaufpreise für Aktien, Produkte und auch der Staat ermittelt Preise für seine Dienstleistungen über diese Mechanik. Jeder Investitionsentscheidung steht eine Schätzung der zu erwartenden Nachfrage gegenüber, anhand derer festgemacht wird, ob sich eine Investition amortisiert und Profit generieren kann, in der Business-Sprache heißt das „Return on Investment“. Wieviel Return kann erwartet werden, und wie lange wird es dauern, bis sich das Investment nettopositiv auszahlt. So weit so bekannt. Doch einen entscheidenden Haken hat diese Logik: Sie überblickt bestenfalls mittelfristig die Entwicklungen der Nachfrage.
Nun, versetzen wir uns in die Lage eines Investors des frühen 18.Jahrhunderts. In der spätfeudalen „Höhle des Löwen“ taucht ein Typ namens Voltaire auf, und pitched die Idee der Aufklärung:
  • Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz, mit der man sich von althergebrachten, starren und überholten Vorstellungen und Ideologien „auch gegen den Widerstand von Tradition und Gewohnheitsrecht“ befreit
  • Kampf gegen Vorurteile und die Hinwendung zu den Naturwissenschaften, das Plädoyer für religiöse Toleranz und die Orientierung am Naturrecht
  • mehr persönliche Handlungsfreiheit (Emanzipation), Bildung, Bürgerrechte, allgemeine Menschenrechte und das Gemeinwohl als Staatspflicht (Quelle: Wikipedia)
Frage: Was könnte der Return-on-Investment dieser Idee sein? Eine Idee, aus der die Theorien von Hegel, Nietzsche, Kant, Adam Smith, Marx u.v.m. entstand; aus deren direkte Folgen die Französische Revolution erwuchs, die Befreiung der Arbeiterschicht, die Demokratie, das ganze immense Potential der Menschheit geweckt wurde. Was wäre der ROI dieser Idee? Und hätte das ein Carsten Maschmeyer in der Höhle der Löwen bewerten können?
Es gab im 18. Jahrhundert keine Nachfrage nach einem Konzept der Aufklärung. Es war schlicht unmöglich, einen Preis zu ermitteln. Diese Idee hätte keinen Investor gefunden, dennoch setzte sie sich durch, führte zu grundlegenden Veränderungen in allen Ebenen unsere Gesellschaften, weltweit und bis heute, 300 Jahre später.
Ein Blick in die Verfassungen und Grundgesetze, in das Völkerrecht und UN-Charta zeigen, dass der Geist der Aufklärung - Freiheit, Gleichheit, Solidarität - in all diesen Schriften verankert ist. Eine humanistische, auf Vernunft basierte Idee macht Karriere. Es ist ein Verdienst von Europäischen Vordenker, die noch heute viele Menschen weltweit begeistert – so sehr, dass sie Land und Leute zurücklassen, um in Europa oder den USA Teile dieser Freiheit, dieser Vernunft und dieser humanistischen Lebensart und -Kultur und ja, auch dieses Wohlstandstandes zu werden. Unsere europäischen, liberalen Werte sind der wahre Pull-Effekt, von dem in konservativen Kreisen gesprochen wird, wenn es um Anreize zur Migration geht. Freiheit bedeutet, selbst entscheiden zu können, wie man das eigene Leben bestreiten will. Wäre Wohlstand der alleinige Grund für Menschen aus Afrika, all die Gefahren der Flucht auf sich zunehmen, würden sie doch eher in naheliegende, wirtschaftlich prosperierende Region streben: Saudi Arabien und andere arabische Ölstaaten. Sie suchen aber den Weg nach Europa, denn nur hier ist Freiheit Grundrecht.
Und hier schließt sich der Kreis: Wenn auf diesem Kontinent etwas vorherrscht, dass in anderen Teilen der Erde nicht gegeben ist, und eine derartige Anziehungskraft erzeugt, dass Menschen buchstäblich ihr Leben riskieren, um zu uns zu kommen, dann haben wir neudeutsch gesprochen einen echten Unique Selling Point. Etwas, dass uns einzigartig macht, etwas das wir pflegen müssen, verteidigen müssen, und auch nutzen sollten. Ein Europa als Festung freiheitlicher und solidarischer Werte, als ein humanistischer Ort, wo Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht nur theoretisches Recht, sondern auch Lebensrealität ist. Ein Verdienst der Aufklärung!
Auf unsere Europäische Union, unser europäisches „Projekt“ schauen seit über 60 Jahren viele Menschen. Sie wollen etwas beobachten, was es so noch nie in der Geschichte der Menschheit gegeben hat: eine friedliche Abtretung von nationalen Kompetenzen, also Macht, auf eine übergeordnete Staatengemeinschaft, ob in der Geldpolitik und Grenzsicherung, in Gesetzgebungsverfahren bis hin zu einem beträchtlichen Teil des nationalen Staatsetats. Nicht alle Beobachter interessieren sich für einen positiven Ausgang dieses Experiments, einige bekämpfen sogar aktiv die Vereinigungsbemühungen, sei es aus geopolitischen Überlegungen, spekulatives Interesse oder Spaltungsbemühungen um das politische und wirtschaftliche Gewicht und Einfluss der EU zu verringern. Allein die Tatsache, dass nicht jeder Beobachter unseres europäischen Projekts dieser Idee friedlich gegenübersteht, zeigt doch eindrucksvoll, wie bedrohlich offenbar für andere Nationalstaaten eine erfolgreiche europäische Vereinigung sein könnte.
Nun, hätten wir Europäer den Mut und die Erkenntnis, unsere „Assets“ (Werte) sowie unser politisches und wirtschaftliches Gewicht für unsere strategischen Ziele nutzbar zu machen, könnten wir sehr große Probleme lösen.
Das erfordert allerdings Einigkeit in der Europäischen Vision und vor allem die Erkenntnis und Pflege unserer Werte als übergeordnetes Gut!
Dann wäre auch etwas wahrhaft Utopisches möglich: die Fusion der Europäischen Union mit der Afrikanischen Union. Ich gebe zu, dass mag unter aktuellen Gesichtspunkten (Brexit, Abschottung, Nationalismus) verrückt klingen, könnte aber tatsächlich große aktuelle und zukünftige Probleme unseres Kontinents lösen:
1. Migration: Ein Beweggrund der afrikanischen Flüchtlinge ist die Aussicht auf ein besseres, sicheres Leben. Würde die Europäische Union sich afrikanischer Staaten öffnen, und Beitrittsverhandlungen mit dem Sudan, Nordafrikanischen Staaten oder auch Nigeria führen, stets unter der Maßgabe der Anerkennung und Einführung der EU-Beitrittsbedingungen (Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Demokratie etc.), was würde passieren? Würden Millionen Marokkaner, die nun Niederlassungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Unantastbarkeit ihrer Würde in ihrer Heimat garantiert bekämen, wirklich noch alle nach Europa einwandern wollen? Würden sie nicht die enormen Chancen im eigenen Land, in ihrer eigenen Kultur, in ihrer eigenen Sprache und mithilfe ihres eigenen Netzwerkes wahrnehmen, als in Deutschland zunächst 12 Monate Sprachkurs machen zu müssen und irgendeinen unqualifizierte Niedriglohnjob auszuüben?
Das ist kein utopisches Szenario! Die EU praktiziert es schon, seit Jahrzehnten mit Überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten. Es gibt eben keine Einwanderungswellen aus Französisch Polynesien, Staint-Martin oder Reunion, auch wenn diese in wirtschaftlich schwachen Regionen liegen. Selbst das Wanderungssaldo aus den „Armenhäusern“ der EU nach Einführung der Freizügigkeit hat in den vergangen 9 Jahren eine überschaubare Migration mit sich gebracht. So sind z.B. aus Bulgarien (2009 – 2018 im Saldo) netto nur 244.000 und aus Rumänien 517.000 Personen nach Deutschland gezogen. Das entspricht 2,7% der rumänischen und 3,5% der bulgarischen Bevölkerung, kumuliert in neun Jahren! Es sind tatsächlich die Wenigsten, die wirklich aufbrechen und alles zurück lassen.
Das ist der statistische Blick aber die Haltungsfrage ist natürlich eine ganz andere. Die meisten politischen Kräfte beteuern immer und überall, dass die Flüchtlingsursachen bekämpft werden müssen um wirksam illegale Einwanderung zu stoppen. Walk the walk and talk the talk: Wollten wir wirklich Flüchtlingsursachen bekämpfen, böten wir den afrikanischen Völkern an, in ihren Heimatländern für bessere persönliche, rechtsstaatliche und ökonomische Bedingungen zu sorgen. Ein EU-Beitritt käme dem gleich, denn sie müssten in ihrem Land eben diese Bedingungen einfordern. Es bedarf sicher viel Aufklärung in der Bevölkerung und ein Umdenken der herrschenden politischen Institutionen und dies ist gewiss nicht in zehn Jahren umsetzbar, aber es stellt einen ernsthaften Anreiz in den afrikanischen Ländern dar, um einen freiheitlichen, demokratischen Prozess anzustoßen, mit der Folge, dass weniger Menschen ihre Hoffnung auf ein besseres Leben ausschließlich in Europa sehen.

2.  Zugang zu Ressourcen, Sonne und Sand. Zum letzten Ölpreisschock 2008 entstand die utopische Idee des DESERTEC, einer Vereinigung der größten deutschen Industrie- und Finanzunternehmen, mit dem Ziel eine gewaltige Solaranlage in Nordafrika zu errichten, um eine Großteil des europäischen Energiebedarf zu decken. Als der Ölpreis in den folgenden zwölf Monaten vom all-time-high $140 pro Fass auf $40 sank, war das Konsortium ebenso schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war. Während die Begeisterung für dieses Projekt hoch war, wurden dennoch immer wieder Zweifel an den Erfolgsaussichten geäußert. Der Grund: politische Unsicherheit und Instabilität in Nordafrika. Man befürchtete, viele dutzende Milliarden Euro in Staaten zu investieren, die (im Jahre 2008, also vor dem arabischen Frühling) autokratisch regiert wurden. Mit einer Afrikaerweiterung der EU würde politische Stabilität in solchen sonnenreichen Regionen per Gesetz gewährleistet. Eine Idee wie DESERTEC könnte zudem einen gewaltigen Investitionsschub nach Afrika bringen, die die Wirtschaft und die Gesellschaft prosperieren lassen würde. Dies ist nicht nur ein strategisch wichtiger Aspekt zur Erlangung einer Energieautonomie bei gleichzeitiger CO2 Neutralität, sondern würde die Ungleichheit zwischen Europa und Afrika erheblich reduzieren; eine win (EU)- win (Afrika) - win (Klima)-Situation.
3.  Zukunftsmärkte: Die Entwicklung Afrikas wird in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer völlig falsch bewertet. Ein Blick in die Langzeitstatistiken zeigt, dass sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich enorme Fortschritte erzielt wurden. In den letzten 20 Jahren ist in der überwiegenden Mehrheit afrikanischer Staaten eine beachtliche Verbesserung der Lebensumstände erreicht worden, es ist so etwas wie eine Mittelschicht entstanden, auch die Gesundheitsversorgung und Bildung hat sich substanziell verbessert. Die Kindersterblichkeit ist dramatisch gesenkt, die Produktivität und die Sicherheit immens gesteigert worden. Dieser Kontinent ist das „neue“ Asien, ein Markt mit bald 2 Milliarden Menschen, die schnell zu uns Europäern aufschließen. Einen gemeinsamen Binnenmarkt könnte einen Boost für Afrikas Wirtschaft bedeuten und gleichermaßen unseren Wohlstand und unsere politische Bedeutung auf der Welt auf Jahrhunderte festigen. Afrika und Europa liegen in ähnlichen Zeitzonen, wir teilen viele europäische Sprachen und uns trennt geografisch lediglich das Mittelmeer. Es geht nicht um einen neuen Imperialismus, es geht um strategische Partnerschaften des 21. Jahrhunderts. In dieser Hinsicht ist Afrika sowohl als gewaltiger, wachsender Markt mit großen Rohstoffreserven aber auch als zukünftiges politisches Gewicht und im geopolitischen Stabilitäts- und Sicherheitsgefüge eine historisch Chance. Wir brauchen die Afrikaner mehr als umgekehrt.
4.  Versöhnung: Offen gesprochen, unsere historischen Schulden gegenüber Afrika sind nicht zu beziffern. Durch den Imperialismus des 18. Und 19. Jahrhunderts, durch Ausbeutung und Völkermord trugen wir eine Hauptschuld am „verlorenen“ 20. Jahrhunderts Afrikas. Eine Öffnung der Europäischen Idee, des gigantischen Friedens- und Wohlstandsprojekts EU auf den Afrikanischen Kontinent wäre späte Wiedergutmachung für die Verwüstungen, die wir dort anrichteten. Italien, Frankreich, England, Deutschland, Niederlande, Portugal, Spanien, nahezu alle Europäischen Kolonialmächte müssen Schulden begleichen. Eine Afrika-EU-Fusion ist der bedeutungsvollste Schritt, den Europa machen kann - die aktuelle Entwicklungshilfe- und Fluchtabschreckungspolitik ist es gewiss nicht.
5.  Erderwärmung: Tatsächlich sind und werden im globalen Süden die Auswirkungen der Erderwärmung besonders heftig ausfallen. Extreme Trockenheit und Hitze sowie Überschwemmungen und Landschwund sind schon heute in einigen Ländern Zentral-, West- und Ostafrikas Realität, mit dem Resultat, dass immer größere Gebiete auf dem Kontinent für Menschen unbewohnbar werden. Selbst wenn morgen die Treibhausgasemissionen weltweit auf nahe null zurückgefahren werden könnten, würden diese Gebiete nicht wieder bewohnbar werden. Allein aus diesem Grund wird das Konzept geschlossener, nationaler Grenzen hinfällig werden, wenn Millionen von Menschen heimatlos und in Nachbarstaaten emigrieren müssen. Es wird passieren, es ist absehbar. Daher sollten wir alles dafür tun, heute schon für gute Lebensbedingungen in Afrika zu sorgen. Würden wir „safe harbours“ in weniger bedrohten Regionen in Afrika entwickeln können, die ebenfalls Klimaflüchtlinge aufnehmen können ohne die gesellschaftliche instabile zu werden, könnten Migrationsströme langfristig deutlich besser verteilt werden. Europa ist maßgeblich für die historischen Treibhausgasemissionen des 19. und 20. Jahrhunderts verantwortlich. Unser Wohlstand beruht letztlich auch darauf, dass die negativen Folgen der Industrialisierung in Afrika und sonst wo auf der Welt auftreten. Eine weitere Schuld, die wir begleichen müssen.
Alle o.g. Punkte, und die unzähligen vermeidbaren Mittelmeertoten sind Gründe genug, um über eine solche interkontinentale Erweiterung der EU ernsthaft nachzudenken. Auch wenn es abwegig klingt, so sei an dieser Stelle auf das weltberühmte Computerspiel „Sid Meiers Civilization II“  1999 verwiesen. Dieses Strategiespiel konnte man auf drei verschiedenen Wegen gewinnen: Kriegerisch, technologisch und kulturell.  Setzte man auf Letzteres und entwickelte eine attraktive Kultur, schlossen sich andere Zivilisationen dem eigenen Hoheitsgebiet an. Im übertragenen Sinne geht es genau darum, also lasst uns die Errungenschaften aus 300 Jahren Aufklärung, Völkerverständigung und interkulturellen Konsens nutzen, um die Herausforderungen der Klimawandels und der Energiefrage anzugehen.


Florian
Weiterführende Gedanken siehe hier:
https://weaksignalmusic.blogspot.com/p/visionen-fur-millionen.html


You Might Also Like

0 Kommentare

Bots are welcome. No Bots No Future

WeakSignalMusic@Spotify

Famous last words

"Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt" Tocotronic - 1995
"Look at the bottle, look at the glass, there is your future, there is your past"
Amyl And The Sniffers - 2018
"Don't you think we're terribly incompatible?" my wife Gwen said one tearful night. After ten years of happy marriage and six wonderful children, I knew these words signaled trouble
No Trend - 1982
"Jazz is not dead, it just smells funny."
Frank Zappa - 1974